In Baden-Württemberg werden sowohl die regierende CDU/FDP-Koalition als auch die oppositionelle SPD Ende März einem Gesetzentwurf zustimmen, mit dem das muslimische Kopftuch in den Schulen des Bundeslandes verboten wird. Am 24. September 2003 hatte das Bundesverfassungsgericht mit seinem "Kopftuch-Urteil" die Länder aufgefordert, in dieser Sache eigene gesetzliche Regelungen zu schaffen. Die Richter in Karlsruhe waren zuvor von der Lehrerin Fereshta Ludin angerufen worden, die auf das Tragen des Kopftuchs im Unterricht nicht verzichten wollte.
Mit dem "Kopftuch-Streit" sei in Deutschland eine Art "Kulturkampf" entfacht worden, schrieb dazu im Freitag vom 16. Januar (Ausgabe 4/2004) unser Autor Mohssen Massarrat. Die Tendenz "das Kopftuch verbieten zu wollen", sei alles andere als "ein Gütesiegel für den Reifegrad der Demokratie". Es gehe für Musliminnen statt dessen darum, "trotz ihres für die Mehrheitskultur fremden Erscheinungsbildes im öffentlichen Leben akzeptiert zu werden". Ein Kopftuchverbot sei daher ein "Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland". Neben zahlreichen Reaktionen von Leserinnen und Lesern (s. Freitag vom 30. 1. und 6.2.), die es nach diesem Artikel gab, erreichte uns auch eine Erwiderung des Göttinger Sozialwissenschaftlers Niels-Arne Münch, deren wesentliche Passagen wir angesichts des Fortgangs der Debatte auf dieser Seite abdrucken.
Die Debatte um das Kopftuchverbot für Lehrerinnen wird mit einer Vielzahl von Affekten und Vereinfachungen geführt, leider macht da auch der Artikel von Herrn Massarrat keine Ausnahme. Sein Text strotzt nur so von den Spiegelbildern jener Vereinfachungen, die der Autor seinen Gegnern vorwirft. Dabei ist es gar nicht nötig, wie Alice Schwarzer "islamistische Kreuzzüge" zu wittern, um das Urteil des Verfassungsgerichts zu begrüßen.
Aus der Kommunikationsforschung wissen wir heute, wie wichtig Gesicht und Mimik für unsere Fähigkeit sind, mit anderen Menschen zu kommunizieren - für den "ersten Eindruck" ist das Gesicht sogar wichtiger als die Sprache, die wir häufig genug gar nicht verstehen. Frauen vorzuschreiben, ihr Gesicht ganz oder teilweise zu verhüllen, schränkt deren Möglichkeiten, sich anderen Menschen mitzuteilen, erheblich ein. Konsequenterweise begleitet strenge Verhüllungsgebote häufig auch ein Redeverbot mit Männern: Die Frau muss sich nicht nur in Stoff, sondern auch in Schweigen hüllen.
Das Problem des Schleiers ist nicht sein Symbolwert - es sind seine praktischen Folgen für Psyche und Handlungsmöglichkeiten der Verschleierten. Schleier und Kopftuch sind Instrumente eines patriarchalen Herrschaftsanspruchs und nicht bloßes Symbol. Wie die Beschneidungen in Afrika die sexuelle Empfindungsfähigkeit einschränken soll, so behindert die Verschleierung die Entwicklung selbstständiger weiblicher Persönlichkeit.
Einem körperlichen Eingriff ähnlich entzieht die Verhüllung der Frau die Verfügung über ihr Gesicht, das elementarer Bestandteil ihres Menschseins ist. Mit aller Deutlichkeit: Es handelt sich hier um eine sozial erzwungene Behinderung.
Unterschiedlich ist nur deren Ausmaß, je nach dem ob es "nur" um ein Kopftuch, eine Ganzkörperverhüllung oder sogar um ein "Hüllen in Schweigen" geht. In jedem Fall sollen Selbstdarstellung und Entfaltung der Persönlichkeit ver- beziehungsweise behindert werden. Es ist ja auch der erklärte Sinn der Verhüllung, Frauen zu einem "zurückhaltenden" Auftreten in der Öffentlichkeit anzuhalten oder sie von Öffentlichkeit auszusperren.
Dagegen spricht auch nicht, dass islamische Frauen dies häufig anders erleben. Selbstverständlich können repressive Strukturen verinnerlicht werden, bis sie von eigenen Wünschen nicht mehr zu unterscheiden sind. Für Unterdrückte ohne Hoffnung auf Befreiung - und für viele Frauen in patriarchalen Gesellschaften besteht diese Hoffnung nicht - ist dies häufig sogar die einzige Möglichkeit, ihr Los zu ertragen: Das Unterbewusstsein wehrt sich und deutet die Unterdrückung um: Sie wird plötzlich als "gottgewollt" empfunden - oder als besonderer Schutz. Werden solche Selbstzuschreibungen nicht kritisch befragt, führt dies zu grotesken Ergebnissen: In Afrika fühlen sich unbeschnittene Frauen häufig "unrein". - Sollen wir deshalb Frauenbeschneidung als zu tolerierende kulturelle Eigenart betrachten? Viele Kulturrelativisten tun dies und halten sich für fortschrittlich. Ich halte solche Positionen für zynisch.
Moslemische Frauen tragen nach Auffassung von Herrn Massarrat das Kopftuch oder den Schleier "aus Gewohnheit, weil sie sich den traditionellen Konventionen ihrer Kulturen verpflichtet" und "sich so subjektiv besser geschützt fühlen". Das klingt harmlos genug, ist aber leeres Gerede: "Gewohnheiten" können fortschrittlich oder rückschrittlich sein, "traditionelle Konventionen" sind teilweise extrem repressiv und taugen deshalb als Argument für gar nichts.
Dies alles kann man schreiben, ohne ein einziges Mal Religion oder den Koran zu bemühen. Das Gesagte gilt nämlich für alle Gesellschaften, Kulturen und Religionen, die Verhüllungsvorschriften gegen Teile ihrer Mitglieder machen. - Muslima alewitischer Glaubensrichtung tragen übrigens traditionellerweise kein Kopftuch.
Sicher: Für viele Muslima in Deutschland und generell im "Westen" ist das Kopftuch der stoffgewordene Kompromiss zwischen familiärem Druck und dem Wunsch, sich in die Gesellschaft einzufügen. Für einige von ihnen handelt es sich dabei um einen "ernsthaften" Kompromissversuch, sie identifizieren sich tatsächlich mit beiden Welten, für andere geht es eher um Konfliktvermeidung. Wie auch immer: Ein Kopftuchverbot bedeutet für diese Frauen eine Zuspitzung dieses Konfliktes. Das ist zweifellos zu bedauern, aber ist es auch zu vermeiden? Sollte nicht ein demokratischer Staat trotzdem an seinen Schulen auf Säkularität und weltanschauliche Neutralität bestehen?
Die Zahl der verschleierten Frauen nimmt weltweit zu, auch in Deutschland. Die Gründe sind vielfältig, der wichtigste ist der wachsende Einfluss fundamentalistischer Gruppen auf die islamischen Gemeinden. Auch die Suche nach Identität in der Fremde oder Angst vor der Moderne mag eine Rolle spielen. Das islamische Kopftuch ist ein Sammelbegriff, zu dem neben Hijab auch der Tschador oder die afghanische Burka gehören. Nicht alle diese Verhüllungsvorschriften sind islamistischen Köpfen entsprungen, aber alle sind mit Vorstellungen über Moral und Geschlechterrollen verbunden, die seit dem 19. Jahrhundert hierzulande unüblich geworden sind und zu recht nicht mehr gelehrt werden. Der soziale Prozess, der hinter dem sich Ausbreiten der verschiedenen Formen des Kopftuchs steht, ist eine Rückkehr zum traditionellen Islam, und nicht die Öffnung für säkulare und individualistische Werte. Zu konstatieren ist daher auch in Deutschland keine fortscheitende Integration, sondern das Entstehen einer sich abgrenzenden konservativ-religiösen Parallelgesellschaft.
Unter diesen Vorzeichen wie Herr Massarrat zu sagen: "Ein Kopftuchverbot wäre ... auch ein Rückschlag für die Integration der Moslems in Deutschland", ist Unsinn. Wie so häufig wird Integration hier nur als Schlagwort gebraucht, als Leerformel, ohne die Frage nach einer integrierenden Praxis zu stellen. Das Öffnen unserer Schulen für das Kopftuch fördert nicht die Integration der Muslime, sondern das Ausbreiten eben jener Parallelgesellschaft, deren wesentliche Merkmale ein vormodernes, anti-emanzipatorisches Normensystem und Abgrenzung nach außen sind. Mit einem Wort: Desintegration.
Wenn wir eine solche Parallelgesellschaft nicht wollen, sollten wir Schluss machen mit falscher Toleranz, die in Wahrheit nur Abgrenzungswünsche passiv hinnimmt. Schon heute ist das Kopftuch für Schülerinnen meist mit weiteren Sanktionen wie "Befreiungen" vom Sportunterricht oder Klassenfahrten gekoppelt. Wie soll aber Integration in der Schule gelingen, wenn überall dort, wo Kinder bevorzugt einander kennen lernen, die muslimischen Mädchen fehlen? Integration bedeutet, sich auseinanderzusetzen, aneinander teilzuhaben, vom Gegenüber zu lernen, sich kritisieren zu lassen, aber auch, den anderen zu kritisieren. Toleranz sollte immer der Integration dienen, sollte den Blick auf das Gemeinsame lenken und Raum für aktive, respektvolle Auseinandersetzung öffnen.
Wo Toleranz aber lediglich das Fremd-Sein und Fremd-Bleiben fördert, ist sie fehl am Platz. Deshalb befürwortet ja Dalil Boubakeur, der Imam der Großen Pariser Moschee, das in Frankreich auf den Weg gebrachte Kopftuchverbot bei Lehrerinnen und Schülerinnen: Das Kopftuch betone das Anderssein und behindere die Integration.
Ein Kopftuchverbot wird für viele Muslima, die in diesem Stoff einen gangbaren Kompromiss sahen, eine große Enttäuschung sein. Aber so sehr Kompromisse immer nötig sein werden, so nötig sind zuweilen auch klare Entscheidungen: Wer in einem Kernbereich unserer Gesellschaft arbeiten will, wer eine Position haben will, in der er zwangsläufig zum Vorbild für die nächste Generation wird, sollte sich zu dieser Gesellschaft bekennen, sich für sie entscheiden und Normen wie Gleichberechtigung, Säkularismus und das Recht auf individuelle Selbstentfaltung vorleben. Hier ist kein "Kompromiss" mit einer ganz anderen Realität und Normenwelt hinzunehmen. Frau Ludin, die Lehrerin, die für ihr Recht auf das Kopftuch klagte, erklärte vor Gericht, ohne dieses Stück Stoff fühle sie sich "nackt". Werden dann nicht zwangsläufig auch Schülerinnen ohne Kopfbedeckung für sie "nackt" - also "schamlos" - erscheinen? Und selbst wenn Ludin diesen Spagat bewältigen sollte, ist dieser Konflikt nicht überall programmiert, wo wir verschleierte Frauen zum Unterricht zulassen? Unseren Kindern sollte etwas anderes vorgelebt werden. Auch sollte Mädchen aus traditionell gesinnten islamischen Familien, die bei uns zur Schule gehen, gezeigt werden, dass diese Gesellschaft ihnen eine Alternative bietet zum Leben hinter dem Schleier oder unter dem Kopftuch.
Der Autor ist Sozialwissenschaftler an der Universität Göttingen und Mitglied von attac.
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