Wollen wir uns ausziehen?

Berliner Abende Weihnachten kann man einfach nicht in einer Kneipe feiern. Ich habe nie begriffen, warum. Denn das Feiern und die Kneipe passen eigentlich gut ...

Weihnachten kann man einfach nicht in einer Kneipe feiern. Ich habe nie begriffen, warum. Denn das Feiern und die Kneipe passen eigentlich gut zusammen - zumindest an allen anderen Tagen im Jahr. Vor einiger Zeit habe ich in zwei Neuköllner Ecklokalen ganz wunderbare Feierlichkeiten erlebt. In eines hatte sich zu späterer Stunde ein stark angetrunkener Transvestit verirrt, der auf dem Tresen tanzte, und die Bardame, eine aufgeräumte Frau mit Indianerbräune und blondiertem Haar, versuchte nicht etwa ihn zurechtzuweisen oder gar aus dem Lokal zu werfen, sondern huschte, quasi eine Etage tiefer als er, ständig neben ihm her, mit erhobenen Händen, um ihn aufzufangen oder zumindest abzustützen, für den Fall, dass er herabstürzen würde. Aber der Transvestit tanzte, selbstvergessen, mit einer traumwandlerischen Sicherheit und warf dabei noch nicht mal ein Bierglas um.

Noch später am Abend tanzten verschiedene Gäste, die sich am Tag wahrscheinlich nicht mal grüßen würden, Paartänze zu älteren Hits. Eine Neuköllnerin fragte mich, ob wir uns ausziehen wollten, aber ich zögerte und sie selbst schien die Sache, nachdem ihr jemand einen Feigling gebracht hatte, einfach wieder vergessen zu haben.

Das andere Mal war es ebenfalls zu spontanen Feierlichkeiten samt Tanz gekommen, und ich fand am Morgen danach einen Zettel mit einer Telefonnummer in meiner Tasche, wegen "Partyvorbereitung". Nach einer Weile dämmerte es mir, und ein Mann im roten Anzug fiel mir wieder ein, mit dem ich mich verabredet hatte, zusammen eine Party für seinen und meinen Bekanntenkreis auszurichten, die im Lokal Bäreneck stattfinden sollte. Er hatte angekündigt, zu Hause noch bessere Musik zu haben, als die Jukebox gerade spielte. Auch ich hatte in Aussicht gestellt, sehr, sehr gute Musikstücke beizutragen, deren Refrains ich ihm gegen den Kneipenlärm versuchte, vorzusingen. Er hatte das Ohr ganz nah zu meinem Mund gereckt, dann aber bedauernd den Kopf geschüttelt und gesagt: "Macht nichts, die bringst du dann ja mit."

Wir brachten beide unsere gute Musik dann nirgendwohin mit, aber es war ein großartiger Abend gewesen.

Kurz gesagt, sind Kneipen sehr gute, wenn nicht die besten Orte überhaupt, um zu feiern. Nur zu einer bestimmten Zeit nicht. Und zwar an Weihnachten. An Weihnachten hängen an Berlins Tresen die entschiedenen Weihnachtsverweigerer, und zu keinem Zeitpunkt im Jahr behaupten dort unisono so viele Menschen mit solchem Nachdruck, sie wollten sich "lieber amüsieren", als langweilig unterm Weihnachtsbaum hocken zu müssen. Der Bierhahn tropft ab, das zweite Bier schmeckt nicht, und auch das erste war schal. Es liegt nicht am schütter schimmernden Lametta im künstlichen Nadelgrün. Es liegt nicht an der Jukebox, die in Abständen die Gäste aufschreckt, wenn sie im 20-Minutentakt laut und unvermittelt einen von einem Zufallsgenerator ausgewählten Song anspielt. Es liegt am Weihnachtsfluch. Die Wirtin bringt neue Biere vorbei und sagt, wir sollen noch schön feiern, nachher. Zu Hause. Auch sie macht heute nur eine kurze Schicht.

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