»Wolodja« P. als Abziehbild

IM GESPRÄCH Juri Lewada, Direktor des Moskauer Meinungsforschungsinstituts WZIOM, über seine Prognose zur Präsidentschaftswahl und die Zuverlässigkeit der Demoskopie in Russland

Vor dem Urnengang am 26. März sieht sich die erst seit zehn Jahren systematisch betriebene Wahlforschung in keiner beneidenswerten Lage. Sie scheint überflüssig, da kaum jemand am Sieg von Wladimir Putin zweifelt. Den Meinungsforschern bleibe nur die Frage zu beantworten, ob der Interimspräsident die Kreml-Krone schon im ersten Wahlgang gewinnt oder in die zweite Runde muss, meint Juri Lewada, Direktor des mit 120 Mitarbeitern und 2.000 Helfern führenden Moskauer Meinungsforschungsinstituts WZIOM. Bei der Duma-Wahl im Dezember hatte WZIOM eine Prognose abgegeben, die dem tatsächlichen Wahlergebnis - mit Ausnahme des Resultats der liberalen Jabloko-Partei (*) - sehr nahe kam.

FREITAG: Wie wird derzeit in Russ- land überhaupt Meinungsforschung betrieben?

JURI LEWADA: Im Prinzip nicht sehr viel anders als beipielsweise in Deutschland. Wegen der Größe des Landes, den teuren und qualitativ schlechten Telefonverbindungen ist es allerdings kaum möglich, die Bürger gründlich zu interviewen. Darum befragen wir die Menschen »Face to face«, wofür wir über 30 Regionalzentren verfügen. Das heißt, wir schicken unsere Interviewbögen per Internet an die Helfer, die dann eine Direktbefragung vornehmen. In der Regel werden 1.600 bis 2.000 Interviews geführt, bei Wahlumfragen wie jetzt liegt die Auswertung innerhalb von fünf Tagen vor.

Wer nutzt Ihre Daten?

Zunächst einmal der direkte Auftraggeber, in der Regel Banken, Parteien, Zeitungen oder Nachrichtenagenturen. Die Hälfte unserer Klienten kommt aus dem Ausland, vorzugsweise aus den USA und Deutschland. Nur so können wir uns finanzieren. Wir sind zwar ein staatliches Institut, erhalten vom Staat aber kein Geld, es gibt nur Vergünstigungen, bei der Büromiete etwa. Ansonsten zehren wir von dem, was erarbeitet wird.

Wie zuverlässig sind Ihre lokalen Mitarbeiter?

Wir bilden die Leute aus und kontrollieren sie. Fälle von Fälschung oder Manipulation sind sehr selten und wenn, dann zieht das die sofortige Entlassung nach sich.

Die seit 1990 in Osteuropa abgehaltenen Wahlen lassen erkennen, dass es kein stabiles Wahlverhalten gibt. Besteht da nicht die Gefahr, dass Sie mit Ihren Prognosen doch sehr direkt Einfluss nehmen?

Sie haben sicher Recht, aber in Russland existieren vor allem keine stabilen Parteien. Dass Wahlforschung Wählerverhalten beeinflusst, dieser Umstand ließe sich für Westeuropa oder die USA genauso feststellen. Wenn man den Leuten Trends vermittelt, wirkt sich das natürlich aus. Wir wissen aus unseren Erhebungen, dass etwa für die Hälfte der Wahlberechtigten Umfrageergebnisse für ihre Meinung relevant sind. Darunter bilden interessanterweise die besser Ausgebildeten eine Mehrheit. Es gibt Auffassungen, deshalb die Veröffentlichung von Erhebungen zu verbieten, aber dann könnte man auch gleich die Medien verbieten.

Zur Wahl am 26. März - was prognostizieren Sie?

Unser Schicksal ist leider schon bestimmt. Wladimir Putin wurde zum einzigen Helden erkoren. Wenn nicht noch irgendeine Katastrophe passiert, die den Nerv des Landes trifft, wird er gewählt. Wir rechnen mit ungefähr 60 Prozent - Sjuganow könnte bei 14 bis 15 Prozent landen.

Und wie sehen Sie das persönlich?

Als Staatsbürger gefällt es mir nicht, als Forscher reizt es mich sehr. Man muss untersuchen, warum plötzlich fast allen ausgerechnet dieser Bewerber so gefällt, jemand, der praktisch nichts getan hat.

Aber es ist doch einfach so, dass Putin deshalb so gut abschneidet, weil sein Vorgänger ein eher jämmerliches Bild abgab ...

Sicher, Putins Vorteile sind: er ist tüchtig, gewandt, jung, hager, energisch und entschlossen. Jelzin war alternd, krank, wirkte unentschlossen - alle warteten darauf, dass er abtrat.

Ist eine Stimme für Putin auch eine Absage an die Demokratie westlichen Stils?

In der Perspektive kann es so sein. Für Putin werden sowohl Linke wie Rechte stimmen. Ein Programm hat er noch nicht vorgestellt. Bisher wurde er nur über den Tschetschenienkrieg bekannt. Niemand weiß etwas über seine Wirtschaftspolitik. Die Rechten denken, er werde eine rechte Politik verfolgen, die Linken hoffen das Gegenteil. Leute, die sich nach Westen orientieren, meinen, Putin habe gute Beziehungen zum Westen. Leute, die zum Westen auf Distanz gehen, erwarten, er werde dem Westen zeigen, wie stark wir sind. Jeder sieht in Putin etwas von sich. Dass Popularität schnell wieder abnehmen kann, zeigt das Beispiel Jewgeni Primakow. Die Russen haben ihn sehr geschätzt, aber auch er hatte kein Programm. Jeder projizierte in ihn seine Wünsche und Hoffnungen.

Was sagen Ihre Umfragen über das Verhältnis Russlands gegenüber dem Westen?

Eine schwierige Periode steht bevor.

Hat ein westliches Parteiensystem in Russland überhaupt eine Chance?

Das politische System im Westen wurde nicht an einem Tag geboren. Nach den bürgerlichen Revolutionen in England oder Frankreich dauerte es mehr als 100 Jahre, bis es ein Parteiensystem und Garantien für die Menschenrechte gab. Vielleicht läuft es bei uns eines Tages auf ein Zwei-Parteien-System amerikanischen Typs hinaus.

Das Gespräch führte Ulrich Heyden

Wahlergebnisse der KPF seit 1993
(Angaben in Prozent / in Klammern Resultat der Sozialistischen Partei)

Europawahl 1999

6,8 21,9)

Parlamentswahlen 1997

9,9 (23,5)

Präsidentschaftswahlen 1994/

8,7 (23,2*)

1. Wahlgang (KPF-Kandidat Robert Hue)


Europawahl 1994

6,9 (26,5)

Parlamentswahlen 1993

9,2 (17,6)

* Lionel Jospin

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