An der Kaschirskoje Chaussee im Südosten Moskaus ragen reihenweise Plattenbauten in den schneegrauen Himmel. Nur dort, wo das Gebäude mit der Nummer 6/3 stehen müsste, findet sich ein Hügel mit einer orthodoxen Miniaturkapelle, umringt von Bänken, auf denen im Sommer die Leute aus dem Viertel sitzen. "Warum entstand ein Friedhof in diesem Bezirk? Woran seid ihr schuld? Wofür haben Unmenschen euch bestraft und euer Schicksal verhöhnt?", hat jemand in fetter Schrift auf die Rückseite einer Bank geschrieben. Die Gedenktafel an der Kapelle kommt ohne Fragen aus. "Ewiges Gedenken den Moskauer Opfern des Terroraktes, die bei der Explosion eines Wohnhauses am 13. September 1999 ums Leben kamen", heißt es knapp.
An jenem Tag im September, gegen fünf Uhr morgens, wurde das Haus mit der Nummer 6/3 von einer Sprengladung zerrissen und begrub 124 Bewohner unter herabstürzendem Beton und Stahl. Nicht weit von der Kaschirskoje Chaussee, an der Uliza Gurjanowa, hatte kurz zuvor ein ähnlicher Anschlag 94 Menschen das Leben gekostet. Zwei Jahre vor dem 11. September 2001 in New York und Washington erlebte die russische Hauptstadt einen blutigen September. Seither verging kein Jahr mehr, ohne dass es irgendwo in Moskau Attentate gab.
Kaschirskoje Chaussee 6/3
"Wladimir Putin hat es mehr als George Bush verdient, War-Time-Präsident genannt zu werden", meint der Philosoph Michail Ryklin. "Unsere russische Gesellschaft ist seit seinem Amtsantritt spürbar aggressiver geworden. Es ist heute leichter als früher, ihr Feindbilder aufzuzwingen." Ryklin meint die Kaukasier, mit denen das russische Kernland nie wirklich Frieden schließen wollte oder konnte. Dennoch leben Tschetschenen, Osseten, Inguscheten, Tscherkessen, Georgier oder Dagestaner überall in der Föderation. Sie verkaufen Melonen und Pfirsiche, handeln mit Schuhen und Kleidern oder bauen in Russland Straßen und Häuser - oder sprengen sie in die Luft, wenn ihre islamistischen Geldgeber aus dem Ausland es wollen. Zumindest ist das die Lesart, wie sie vom Kreml und dem Gros der russischen Medien kolportiert wird. Im Herbst lief in den Moskauer Kinos der Film Countdown, der von tschetschenischen Terroristen erzählt, die als Werkzeug ihrer arabischen Auftraggeber einen ganzen Zirkus als Geisel nehmen. Die "Schwarzärsche", wie die Kaukasier oft genannt werden, stehen weit unten in der russischen Gesellschaftspyramide. Der Präsident folgt zuweilen diesem dictionnaire populaire, wenn er nach Anschlägen Willensstärke und Entschlossenheit demonstriert und erklärt: "Wir werden die Terroristen in ihren Höhlen ausräuchern."
"Gegen Hooligans kann die Politik kämpfen, aber nicht gegen den Terrorismus. Das ist etwa ganz anderes, ein Phänomen oder eine Strömung." Für den 29-jährigen Maxim Mischarin ist die Kaschirskoje Chaussee 6/3 eine Adresse, die noch immer existiert. Hier hat er mit seinen Eltern gewohnt, hier hat er damals versucht, sie unter dem Schutt zu finden und aus den Trümmern zu ziehen. Als der Sprengsatz explodierte, hatte er das Haus bereits verlassen. Das Glück des Zufalls. Es fiel ihm lange Zeit schwer, dies als Geschenk des Lebens anzunehmen.
Die Stadtverwaltung gab Maxim eine neue Wohnung und ein Jahr lang auch finanzielle Unterstützung. "Sie halfen mir so lange, bis kein Geld mehr da war. Gemeinsame Opferinitiativen wie in Amerika kennen wir nicht. Hier kämpft jeder für sich allein." Natürlich habe er später den Prozess verfolgt, bei dem Adam Dekkuschew und Jusuf Krymschamlow aus Karatschejewo-Scherkessien als mutmaßliche Täter zu lebenslänglichen Haftstrafen verurteilt wurden. Ein Verfahren, bei dem die Staatsanwaltschaft Beweise für Kontakte zum internationalen Terrorismus vorlegte.
"Es wäre mir leichter ums Herz, wenn ich wüsste, wer die wirklichen Hintermänner dieses Anschlags waren, bei dem meine Eltern starben", meint Maxim. "Sollte in zehn Jahren herauskommen, dass der FSB wirklich beteiligt war - das wäre für mich sehr erschütternd." Derartige Verschwörungstheorien geistern in den Köpfen all jener herum, die dem russischen Staat so gut wie alles zutrauen und nichts von ihm erwarten. Steckte der Inlandsgeheimdienst FSB hinter den Attentaten auf die Moskauer Wohnhäuser, um die Bevölkerung in Panik und Angst zu versetzen, damit die nach dem Schutz des Staates rief? Nach dem blutigen September von 1999 konnte niemand mehr ernsthaft gegen ein erneutes Vorrücken russischer Truppen in Tschetschenien sein. Auch in Rjasan hatte die Polizei damals - nur wenige Tage nach den Detonationen in Moskau - Sprengladungen in einem Wohnhaus entdeckt, von denen der FSB kurze Zeit später behauptete, es habe sich um Attrappen gehandelt. Alles sei nur eine Übung gewesen.
Metrostation "Rischskaja"
"Putin verliert wenig Worte, aber er tut etwas." Der 28-jährige Jewgenij bewundert seinen Präsidenten. Er führt ein kleines Juweliergeschäft in einer der belebtesten Moskauer Untergrund-Passagen mit Dutzenden von Läden für Blumen, Passbilder und Piroschki. Am Ausgang zur Twerskaja ist eine Rose aus Metall in den Marmor eingelassen. Die meisten hasten vorüber, ohne dass ihr Blick auf das kleine Mahnmal fällt, das an den 8. August 2000 erinnern soll, als hier ein Sprengsatz detonierte und 13 Passanten tödlich verletzte.
Er denke viel nach über den Terror, der seine Stadt immer wieder heimsuche, meint Jewgenij. Er habe gekämpft im ersten Tschetschenienkrieg, der 1994 begann, und damals begriffen: Wer Unheil anrichtet, den werde es irgendwann selbst treffen. "Was geschieht, wenn es irgendwo in Russland einen Anschlag gegeben hat? Die Armee zieht los und zerbombt ein paar tschetschenische Dörfer. Und aus den Familien, die davon betroffen sind, kommen die nächsten Terroristen."
Nach jedem Anschlag stehen Milizionäre noch zahlreicher als sonst auf öffentlichen Plätzen und Metro-Stationen. Sie kontrollieren vorzugsweise die Ausweise und das Gepäck der Kaukasier, aber dann kann doch niemand verhindern, dass sich am 6. Februar 2004 eine Frau in einem überfüllten Waggon zwischen den Stationen Awtosawodskaja und Paweletskaja in die Luft sprengt und 41 Menschen mit in den Tod reißt.
Auf den fünf Fernbahnhöfen Moskaus kommen täglich Zehntausende aus Wladikawkas, Taschkent, Kislowodsk oder sonst woher an, beladen mit großen Plastiktaschen, in denen Kleider, Kraut oder Gurken verpackt sind, aber auch alles andere versteckt sein könnte. Die Moskauer verdrängen das Wissen um die Gefahr in ihrer Stadt. Manche fahren weniger Metro und statt dessen mehr Bus. Und die Begüterten entsagen der Metropole und kaufen sich ein Häuschen in der Umgebung. Mit der Untergrundbahn fahren sie ohnehin nicht.
Am 31. August 2004, einen Tag vor dem Überfall auf die Schulfeier im nordossetischen Beslan, zündet eine "Schwarze Witwe", wie die tschetschenischen Attentäterinnen genannt werden, an der Rischskaja ihren Sprenggürtel, als sie am Eingang zur Metrostation in eine Kontrolle gerät. Auch Monate später sind auf dem Boden noch die Spuren der Explosion zu sehen, der Asphalt ist auf ein paar Quadratmetern aufgeplatzt, in dem Loch sammeln sich Matsch und Dreck. An einer kleinen Betonmauer dahinter lehnt ein Kranz, daneben verliert ein Marienbild im Schnee seine letzten Farben.
Einige Meter weiter steht ein Denkmal für den ersten sowjetischen Sputnik - ein großer, starker Mann, der den Satelliten ins All schleudert. Irgendwann wird auch an der Station Rischskaja auf einer Tafel zu lesen sein, dass an diesem Ort acht Moskauer starben, die dem Todeswahn einer tschetschenischen Terroristin zum Opfer fielen. Es sei denn, die Verantwortlichen in der Stadtverwaltung haben inzwischen genug von solcherart Gedenkstätten. Immerhin war es am 31. August 2004 auch ein Erfolg für das Sicherheitspersonal, dass es die Attentäterin nicht bis in einen Waggon der Metro geschafft hat.
Musicaltheater "Nord-Ost"
Wie lebt man unter dieser ständigen Bedrohung? "Der Reflex der Verdrängung wird immer stärker", glaubt der Philosoph Ryklin. "Andererseits verrohen die Menschen. Der Tod ist zu einem Spektakel geworden, das sie gestern gesehen haben, und heute und morgen sehen werden."
Am 23. Oktober 2002 müssen die Moskauer etwas erleben, was sie bis dahin noch nie gesehen und erlebt haben. Ein tschetschenisches Kommando dringt unter Führung von Mowsar Barajew während einer Vorstellung des Musicaltheaters Nord-Ost in das Gebäude ein und nimmt fast 800 Besucher und Mitarbeiter des Hauses als Geiseln. 129 von ihnen sterben 48 Stunden später durch das Gas, das eine Spezialeinheit vor der Erstürmung in den Zuschauersaal leitet. Auch alle Geiselnehmer - 41 an der Zahl - werden getötet.
Vor dem Theater steht heute eine mehrere Meter hohe Betonstele, auf der ganz oben drei Kraniche aus Bronze montiert sind und ich Richtung Süden davon fliegen wollen. Im Schnee vor der Säule liegen ein paar Plastikrosen. Vielleicht hat sie jemand vor drei Monaten abgelegt, am 23. Oktober, zum zweiten Jahrestag des Attentats.
In einem Glasrahmen direkt am Theater hängt eine Liste sämtlicher Anschläge, die auf russischem Territorium seit den frühen neunziger Jahren verübt wurden, darüber steht in tief schwarzen Lettern: "Nord-Ost ... Beslan". Mit dem Musical, das seinerzeit gespielt wurde, ist das Ensemble gerade auf Russlandtournee. Bis zu dessen Rückkehr wird im Theater Nord-Ost für eine Show geprobt. Lustige Leute, so der Titel.
Der Staat stellte nach dem Anschlag zehn Millionen Rubel Soforthilfe zur Verfügung, um die Spuren von Geiselnahme und Befreiungsaktion zu beseitigen. Schon nach einigen Wochen konnte wieder gespielt werden. "Nein, es gab eigentlich keinen Einbruch bei den Besucherzahlen", erinnert sich Michail Sapylajew, der Direktor des Hauses seit 1994. Nur die Zeit der großen Silvesterfeiern und Hochzeiten im Theater, die sei augenscheinlich vorbei. So etwas wollten die Leute hier nicht mehr veranstalten. Und dann zeigt er den Raum, in dem die Männer der Spezialeinheit Alpha seinerzeit den Anführer des Tschetschenen-Kommandos erschossen haben. Ebenso kompromisslos ist Alpha auch mit all den anderen Geiselnehmern verfahren - obwohl die schon durch das Gas bewusstlos waren. Der Staat habe einfach alle Zeugen beseitigen wollen, damit niemals etwas über die Rolle offenbar werden könne, die der FSB bei diesem Drama möglicherweise gespielt habe, hieß es unmittelbar nach dem Attentat unter der Hand in Moskau.
Michail Sapylajew, der während des Sturmangriffs mit im Kommandostab von Alpha saß, will von solch abstrusen Theorien nichts wissen. "Das Problem des Terrorismus hat sich in zwei bis drei Jahren erledigt. Wir haben schließlich den Tschetschenen im vergangenen Jahr die Macht übergeben!" Natürlich könne er verstehen, dass Menschen im Kaukasus, die alles verloren hätten, Rache nehmen wollten und zu Terroristen würden. "Aber die Zeit heilt alle Wunden."
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