Nach der Preisverleihung sieht immer alles noch einmal ganz anders aus. Noch am Samstag Morgen war es eine Berlinale geprägt von starken, reifen Frauenfiguren, dem skurrilen Humor amerikanischer Independent-Filme und den üblichen Beiträgen zum verhängnisvollen Weltgeschehen wie Globalisierung und Kriegsverbrechen. Am Samstag Abend, mit der Verkündung des Goldenen Bären für die spanisch-peruanische Produktion La Teta Asustada ("Milch des Leids") wurde es plötzlich die Berlinale des lateinamerikanischen Kinos. Drei weitere Preise gingen in die Region: der große Preis der Jury, der Alfred-Bauer-Preis, verliehen für die Eröffnung „neuer Perspektiven in der Filmkunst“, und die Auszeichnung für den besten Erstlingsfilm. Alle
gsfilm. Allerdings an ein und dieselbe Produktion: den Film Gigante des argentinischen Regisseurs Adrián Biniez.Gigante handelt von einem massigen jungen Mann, der in der Sicherheitsbranche tätig ist. Unter der Woche arbeitet er als Wächter in einem Supermarkt, am Wochenende setzt er seine beeindruckende Physis als Türsteher einer Bar ein. Eines Tages fällt ihm auf einem der Bildschirme der Überwachungskameras, die er beaufsichtigt, eine junge Putzfrau auf. Als sie aus Versehen einen Stapel Haushaltstücher zum Einsturz bringt, lacht er in seinem versteckten Kabuff herzlich auf. Von da an hat es ihm die Frau angetan, mehr noch, er entwickelt eine regelrechte Obsession. Die Überwachungskameras laden ihn geradezu dazu ein, sein angebetete Objekt lückenlos zu beschatten. Bald verschafft er sich Einblick in ihre Akten, erfährt, wie sie heißt, wo sie wohnt und folgt ihr. Doch wann immer er ihr – wie etwa in der Kantine – auf selbstverständliche Art über den Weg läuft, wendet er sich ab und versucht sich zu verstecken.Der Film lebt vom speziellen Charme seines Helden, der den Zuschauer mit dem Gegensatz von imposanter Gestalt und großer Schüchternheit anrührt. Und es ist tatsächlich beeindruckend, wie Regiedebütant Adrián Biniez es versteht, eine Geschichte mit einer derart verschlossenen, schweigsamen Gestalt im Zentrum so unterhaltsam zu erzählen, dass man den Stillstand der Handlung kaum bemerkt. Wirklich neu ist das allerdings nicht; da hat der erfahrene Berlinale-Zuschauer der Jury mal wieder etwas voraus. Mit Filmen wie El Custodio, El Otro und Lake Tahoe war eben diese Erzählweise in den letzten Jahren oft im Wettbewerb zu sehen – und wurde auch bereits mehrfach ausgezeichnet. Immerhin hat Gigante aufgrund seiner Unterhaltsamkeit und seines positiven Endes (immer noch eine Rarität im Kunstfilm) im Gegensatz zu vielen anderen Berlinale-Gewinnern eine gute Chance auf eine Kinoauswertung.Im Fall des Goldenen-Bären-Gewinners sieht das nämlich schon wieder anders aus. La Teta Asustada handelt von einer jungen Indígena in Peru. Zusammen mit ihrer Mutter lebt sie beim Onkel, der ein offenbar gut gehendes Business als Hochzeitsausstatter betreibt. Als die Mutter stirbt, sieht sich die junge Frau mit ihren großen Ängsten allein gelassen, findet aber nach und nach einen Weg, ihre Traumata in den Griff zu bekommen. Der Film der in Peru geborenen, in Spanien lebenden Claudia Llosa lebt wie Gigante von Präsenz und Ausstrahlung der Hauptfigur. Auch Fausta, gespielt von Magaly Solier, ist verschlossen und schweigsam und erst die Erzählweise des Films „erschließt“ dem Zuschauer das Innenleben der jungen Frau. Mehr noch als Biniez in Gigante erlaubt sich Llosa in ihren Szenen eine willentliche Zuspitzung der Zustände. Ihr Film ist ein Panorama der peruanischen Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der nicht immer friedlichen Koexistenz von archaischer Tradition und modernen Konsumentenriten, von arm und reich, indigen und postkolonial, auf den ersten Blick faszinierend, auf den zweiten aber von effektvoller Oberflächlichkeit.Zwei Filme von deutschen Regisseuren gab es dieses Jahr im Wettbewerb, und beide wurden mit viel Beifall aufgenommen und tauchten in diversen Favoritenlisten auf. Aber nur einer von ihnen fand die Gnade der Jury, das dafür aber gleich zweimal. Maren Ade bekam für ihr kleinteiliges Beziehungsdrama Alle Anderen den Großen Preis der Jury – den sie sich mit Adrián Biniez’ Gigante“ teilen musste –, während ihre Hauptdarstellerin Birgit Minichmayr den Silbernen Bären als beste Schauspielerin erhielt. Auch wenn diese Entscheidung gerechtfertigt erscheint, tut es einem doch leid um Hans-Christian Schmid und sein Gerichtsdrama Sturm, das leer ausging. So sehr man sich sonst oft wünscht, die Jury möge mehr nach ästhetischen und weniger nach der thematischen Gewichtigkeit ihre Preise ausrichten, wirkt diese Bevorzugung von Innerlichkeit (Alle anderen zeigt ein Paar in der Krise auf Sardinienurlaub) über Relevanz (Sturm handelt vom Prozess gegen einen jugoslawischen Kriegsverbrecher am Internationalen Gerichtshof in Den Haag) doch ein wenig befremdlich.Wie zum Ausgleich scheint wenigstens der Silberne Bär für den besten Hauptdarsteller nach Thematik und nicht nach Professionalität vergeben worden zu sein. Mit Sotigui Kouyate, der in Rachid Boucharebs London River einen afrikanischen Arbeitsemigranten auf der Suche nach seinem in den Nachwehen der Terrorattentate in London 2005 vermissten Sohn sucht, wählte die Jury jene Sorte sympathisch-würdiger Selbstdarsteller aus, für den die Berlinale eine traditionelle Vorliebe hegt. Kouyate, der schlecht zu Fuß ist und sich zur Dankesrede auf der Bühne setzen musste, nutzte die Gunst der Stunde, erzählte Anekdoten und brach damit alle Rekorde der Redezeitüberschreitung einer Berlinale-Preisverleihung. Wenn nächstes Jahr schon niemand mehr weiß, wer Gigante war und um was es in La Teta Asustada ging, werden sich viele noch an diesen Auftritt erinnern.