Der Chor in Goethes Faust warnte schon vor Zeiten. Die Literatur würde sich im globalen Inter-Netz verrennen und der Autor mit dem heiligen Gesetz seiner ingeniösen Aufgabe brechen. Nun scheint sich die Prophezeiung zu erfüllen, zumindest in den Augen jener, die in den digitalen Medien eine Verderbnis für die hohe Kunst und für die wertvolle Buchkultur zu erkennen glauben.
An den neuen digitalen Technologien entzünden sich Skepsis und Ängste. Marshall McLuhan hat in den siebziger Jahren nichts weniger als das Ende der Gutenbergkultur prognostiziert. Die Schrift wird als autoritative Kulturtechnik entmachtet, das Buch weicht flimmernden Bildsc
tative Kulturtechnik entmachtet, das Buch weicht flimmernden Bildschirmen.Zugleich aber entzünden sich an diesen Technologien auch Hoffnungen und utopische Fantasien. Das World Wide Web befreit die Literatur vom Druckzwang, lässt sich etwa vernehmen. Die Linearität des Buchtextes löst sich in offene Strukturen auf, Literatur wird in direkte Interaktion überführt, wo sie sich prozesshaft verfertigt. Frohgemut ist deshalb auch schon die Erlösung von der Gutenberg-Kultur verkündet worden.Wie immer wir es drehen und wenden, die neuen Medien stellen die Literatur auf eine Bewährungsprobe. Das gute alte Buch sieht sich herausgefordert durch die digitale Vernetzbarkeit. Der Computer hat sich des Textens bemächtigt, eine handliche CD-ROM speichert platzsparend ganze Bibliotheken und das Internet eröffnet einen Freiraum für poetische Experimente jenseits von kanonischen Begrenzungen.Hyperfiction nennt sich denn die neue Literatur, die diese Möglichkeiten der digitalen Medien auszuprobieren gewillt ist. Ihr Kernstück sind die Hyperlinks. Mit einem Mausklick auf ein beliebiges, vorab definiertes Zeichen lässt sich flugs ein neuer Text aufrufen und auf dem Bildschirm einblenden. Es ist, als ob eine Seite umgeblättert würde, doch die sprunghafte Beweglichkeit der Hyperlinks verleiht dem Text die Gestalt einer vielschichtig gewobenen Textur.Offene Textstrukturen sind nichts Neues in der Literaturgeschichte. Seit langem schon experimentiert die Avantgarde mit Formen der literarischen Sprengung. "Ecriture automatique", konkrete Poesie (Max Bense), Cortazars Rayuela-Roman sind Beispiele dafür, wie lineare Erzählmuster und Textstrukturen aufgebrochen werden können.Mit dem digitalen Code erhalten diese Experimente freilich eine neue Qualität. Der Text wächst nicht mehr kontinuierlich, sondern wuchert in alle Richtungen über die Zeilen und Seiten hinaus. Hyperlinks legen auseinanderstrebende narrative Pfade durch ein Textkorpus und ermöglichen, ja provozieren so alternative Lesarten. Die Lektüre wird dynamisch. Und sie wird gestisch. Lesende oder Klickende suchen sich einen je eigenen Weg, um ans "Ende" ihres Textes zu gelangen, das heißt, sie lesen sich je unterschiedliche Geschichten zusammen aus einem verwirrenden Sample von Texten, die untergründig durch sich verzweigende und wieder vereinigende Pfade zusammengehalten werden. Im Prozess dieser springenden, volatilen Lesart weicht die "akribische" der "anekdotischen" Lektüre, wie es Roland Barthes avant la lettre genannt hat. Je raffinierter die Hyperlinks gesetzt sind, desto vielfältigere Lesarten werden möglich. Je mehr unwillkürliche Wiederholungen sich ergeben, desto langweiliger liest sich eine Hyperfiction.Wenn jedoch kein strikt vorgebahnter Weg mehr die Lektüre lenkt, verliert der gelesene Text seinen vom Autor festgelegten Zusammenhalt. Die Lesenden werden zu Mit-Produzenten am Text, die Rollen von Reader und Writer amalgamieren zum aktivierten "Wreader". In seiner Radiotheorie hat Bertolt Brecht gefordert, dass "eine Art Aufstand des Hörers, seine Aktivierung und seine Wiedereinsetzung als Produzent" nötig seien, um der Folgenlosigkeit des Mediums Radio entgegen zu wirken. In übertragenem Sinn wird Hyperfiction dieser Forderung gerecht, indem sie Textgebilde anbietet, die die Lesenden animieren, selbst bestimmend einen roten Faden durch das Textkonvolut auszulegen.All die neuen Möglichkeiten präjudizieren jedoch noch kein Gelingen. Sie sagen nichts über die konkrete Nutzung des kreativen Potenzials aus. Hier linken sich denn auch die kritischen Stimmen ein. Hyperfiction sei, so eine geläufige Meinung, in erster Linie eine Spielerei, die auf Kosten der literarischen Qualität mit technischen Mitteln agiere und deren Reize ausbeute. Im Netz der digitalen Medien hänge sich die Literatur gewissermaßen selbst auf. Solche Einwände sind nicht ganz von der Hand zu weisen. Hyperfiction-Texte wirken nicht selten etwas beiläufig und salopp formuliert.Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die Sprache nicht mehr allein für die Qualität bürgt. Zusätzlich zur stilistischen und narrativen Gestaltung erlangen das Screen-Design und vor allem die Programmierung Bedeutung als ästhetische Kategorien. Sie müssen bei der qualitativen Bewertung notwendigerweise mit einbezogen werden, mit den Worten von Roberto Simanowski, dem Herausgeber des online-Magazins www.dichtung-digital.de: "Die Ästhetik der digitalen Literatur ist in hohem Maße eine Ästhetik der Technik, denn die künstlerischen Ideen müssen in die Materialität des Stroms überführt werden, ehe sie auf der Ebene sinnlicher Vernehmbarkeit erscheinen können. Dies erfordert vom Autor eine weitere bisher nicht notwendige Qualifikation: neben der ästhetischen - und zwar: multimedial - ist die technische nötig."Gutenberg vor dem aus und Turing ante portas? Wohl kaum. Das weiße Papier, dieses mythisch überhöhte literarische Kraftfeld, wird seine Bedeutung nicht so schnell verlieren. Zwar macht die Hyperfiction geltend, dass ihre Link-Struktur dem Bedürfnis nach freier Gedankenassoziation beim Lesen entspricht. Doch die farblich gekennzeichneten Links können diesen Gedankenflug ebenso auch lähmen, normieren.Hyperfiction erfüllt also längst nicht alle utopischen Wünsche, die ihre Fürsprecher mitunter euphorisch verkünden. Weder ist das Internet ein globales "Nirgendwo" noch berechtigt es die ganze Welt, an kollektiven Texten mitzuwirken. Gleichwohl eröffnet Hyperfiction neue Wege, ganz so, wie es seit je her die Aufgabe der literarischen Avantgarde ist. Die multiple, nicht-hierarchische und interaktive Vernetzung von Texten auf dem offenen, urheberrechtlich wenig reglementierten Internet steht für eine Öffnung der Literatur. Literatur wandelt sich beständig, Hyperfiction ist eine ihrer Möglichkeiten. Darin besteht ihr Reiz und zugleich ihre Beschränkung.Experimente sind selten perfekt, wollen es nicht sein. Vielmehr sind sie Spielfeld von Möglichkeiten und Alternativen, von Kreuzungen, Vernetzungen und Transformationen. Indem sie keine Angst vor dem Misslingen bekunden, erweitern sie das ästhetische Vermögen, getreu einem Zitat aus Walter Benjamins Kunstwerk-Essay: "Es ist von jeher eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst gewesen, eine Nachfrage zu erzeugen, für deren volle Befriedigung die Stunde noch nicht gekommen ist." Dies trifft für die digitale Literatur zu, auch wenn, beziehungsweise gerade weil Benjamin hier explizit von den Aufgaben der Kunst spricht."Literatur" ist eine etwas altjüngferliche Kategorie, die üblicherweise restriktiv angewendet wird im Sinne von künstlerisch wertvoller Belletristik und "die Gattungen der Lyrik, Epik, Dramatik und Essayistik umfaßt" (Meyers Lexikon). Hyperfiction jedoch entzieht sich solcher Einteilungen. Eine sehr aktive Hyper-Szene entwickelt sie am Rande des etablierten Literaturbetriebs weiter. Mit dem Effekt, dass ihr Universitäten und Literaturkritik als traditionelle Hüterinnen der schönen Form nur mit säuerlicher Ablehnung begegnet sind. Bis vor kurzem zumindest, denn allmählich scheinen die Berührungsängste einer konstruktiven Neugier zu weichen, die in der digitalen Literatur mehr entdecken als unbedarftes technoides Spiel. Nicht nur die Sprachkritik entdeckt die digitale De-/Codierung. Die Collage: mix und remix, oder "surf, sample and manipulate" (Marc America), findet als prägende Schreib- und Kulturtechnik zusehends Aufmerksamkeit.Gleichwohl ist absehbar, dass sich der traditionelle Literaturbegriff als zu eng für die literarischen Netz-Experimente erweist. Stattdessen bietet sich die "Kunst" als offenere kategorische Heimstatt an. Kunst erschließt sich immer neue Räume und Formen. Hyperart und Hypermedia werden begrifflich an die Stelle der Hyperfiction treten.Im Grunde wird es aber immer ein elitäres Projekt bleiben - so wie jede Avantgarde vor ihrer kulturbetrieblichen Vereinnahmung. Dies nicht zuletzt deshalb, weil nur eine beschränkte Zahl von Lesenden daran interessiert ist, aktiv die Ko-Autorschaft bei der Verfertigung von Literatur zu übernehmen. Literatur als Gestus und Montage ist ein anstrengendes Vergnügen. Gleichwohl lohnt es sich aufmerksam zu beachten, was sich literarisch beziehungsweise künstlerisch auf dem Internet tut, nicht zuletzt deshalb, weil hier die Genese einer neuen Kunstform mitverfolgt und dabei sogar mitgewirkt werden kann. Noch hat Hyperfiction längst nicht alle kreativen Möglichkeiten ausgeschöpft.Adressen aus dem Internet:www.dichtung-digital.de - Roberto Simanowskis online-Magazin für digitale Ästhetik, das sich differenziert mit Hyperfiction auseinandersetzt (auch als CD-ROM).www.cyberfiction.ch - eine umfangreiche kommentierte Database von Beat Suter über Hyperfiction-Projekte im Internet.www.literatur-tipp.ch - ein Wegweiser durch das vielfältige Literatur-Angebot im Internet, zurzeit mit einem Hyperfiction-Spezial.Bücher Beat Suter / Michael Böhler (Hg.): Hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch, mit CD-ROM. Nexus bei Stroemfeld, Basel / Frankfurt am Main 1999, 232 S., 38,- DM Beat Suter: Hyperfiktion und interaktive Narration im frühen Entwicklungsstadium zu einem Genre. update Verlag, Zürich 2000, 196 S. Von Roberto Simanowski ist in der Edition Suhrkamp der Band Interfictions für Januar 2002 angekündigt. CD-ROM Susanne Berkenheger: Hilfe! Ein Hypertext aus vier Kehlen. Johannes Auer/ Reinhard Döhl: kill the poem. Digitale visuell konkrete Poesie und Poem Art. Beide update Verlag, Zürich 2000.
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