WTO-Millennium Round - Schlussgong spätestens 2003: Argentinien hadert mit dem "Samba-Effekt"

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In Seattle werden ab Ende November Delegationen aus 130 Staaten auf einer Ministerratskonferenz der Welthandelsorganisation (WTO) die sogenannte Millennium Round einläuten, das heißt über die Agenda der neunten "Welthandelsrunde" entscheiden. Zwischen 1999 und 2003 wollen dann Industrie- und Entwicklungsländer über eine fortgesetzte Liberalisierung und Deregulierung des Weltwirtschaftsystems verhandeln. Die am 1. Januar 1995 als Nachfolgerin des Allgemeinen Zoll- und Handelsabkommens (GATT) gegründete WTO dürfte neben einem beschleunigten Abbau von Zoll- und Handelsschranken ihre Aufmerksamkeit vorzugsweise auf einen globalisierten Dienstleistungsmarkt und weiter deregulierten Handel mit Agrarerzeugnissen richten. Erwartet werden zudem eine Neuregelung des internationalen Patentrechtes sowie eine Vereinfachung für Investitionen im supranationalen Kapitalverkehr. Öffnen möchte sich die WTO allerdings auch "neuen Themen", sprich: Sozial- und Umweltstandards im Welthandel. Bis zur Konferenz in Seattle wollen wir uns daher mit einigen Elementen dieser sich abzeichnenden "Liberalisierungsdynamik" beschäftigen, nicht zuletzt auch mit dem derzeitigen Zustand regionaler Wirtschaftsblöcke wie dem südamerikanischen Freihandelsverbund Mercosur, der Entwicklungsgemeinschaft des Südlichen Afrika (SADC) oder der ASEAN-Freihandelszone AFTA in Südostasien. Assoziationen, die sich vor allem einem ungehinderten Transfer von Waren und Dienstleistungen verschrieben haben, wobei sich - bezogen auf die Entwicklungs- und Schwellenländer - die Protagonisten einer weiteren Liberalisierung des Handels besonders in Lateinamerika finden lassen, so sehr dies auch zuweilen Spielräume nationaler Politik ein engen mag.

Die neunziger Jahre waren das Jahrzehnt der "neoliberalen Modernisierung", in deren Verlauf der Pfad einer binnenmarktzentrierten Entwicklung vollends verlassen und der Freihandel zum entscheidenden Paradigma avancierte. Regionale Integrationsprozesse, wie sie mit dem Mercosur gegeben waren, hatten daran ihren Anteil. Doch nun, seit Ausbruch der Brasilien-Krise Anfang 1999 belasten erhebliche Spannungen das Verhältnis zwischen den Protagonisten Argentinien und Brasilien. Beide Länder bestreiten 95 Prozent des im Mercosur erwirtschafteten Bruttoinlandsprodukts (BIP) und vereinen 97 Prozent der Bevölkerung. Ihre dynamische Handelsverflechtung war Grundlage der Erfolgsstory.

Den Auslöser für die Handelskonflikte gab die etwa 40prozentige Abwertung der brasilianischen Währung (Real) im Januar, nachdem durch den massiven Abzug ausländischer Kapitale die Koppelung an den US-Dollar aufgegeben werden musste. Dadurch verbilligten sich die in Brasilien hergestellten Produkte, was zu steigenden Exporten nach Argentinien führte ("Samba-Effekt"). Umgekehrt wurden die Ausfuhren Argentiniens nach Brasilien erschwert. Dabei ist die argentinische Wirtschaft existenziell auf den Absatzmarkt in Brasilien angewiesen, wohin etwa 30 Prozent ihrer Gesamtausfuhren gehen. Auf die kritische Situation reagierte Buenos Aires mit Einfuhrbeschränkungen für einige brasilianische Produkte. Einer Serie von gegenseitig angedrohten und teilweise ergriffenen Maßnahmen und Gegenmaßnahmen der Handelsbeschränkung war die Folge. Brasilien stemmte sich gegen jede Form einer Kompensation abwertungsbedingter Handelsverluste, und Argentinien hielt weiter an den einseitigen Handelsbeschränkungen für Textilwaren, Stahl, Lederprodukten und Reis aus Brasilien fest. Zwischenzeitlich droht Brasilien sogar damit, gegen die Handelsrestriktionen bei der WTO Klage einzureichen.

Eine der Ursachen für den Handelskrieg, der das ganze Integrationsprojekt in Frage zu stellen droht, liegt sicherlich in der mangelnden makroökonomischen Koordination. Solange in Argentinien und Brasilien die Währungen an den Dollar gekoppelt waren, verlief auch die damit verbundene Tendenz zur Überbewertung in beiden Ländern relativ gleichförmig. Die Notwendigkeit einer Abstimmung der Finanz- und Wirtschaftspolitik erschien wenig akut. Schliesslich überwog die Angst vor einem damit verbundenen Souveranitätsverlust. Für die aus der Überbewertung resultierende mangelnde Exportfähigkeit bot der Mercosur durch die Erweiterung des Binnenmarktes einen Kompensationskanal. Als Brasilien den Wäh rungsverbund aufgab und der Real dadurch massiv an Wert verlor, war für die argentinische Wirtschaft dieser Kanal verstopft. Statt des Versuchs eines gemeinsamen Managements suchten nun beide, die Krise auf Kosten des jeweils anderen zu überwinden.

Dass dabei der Mercosur in Mitleidenschaft gezogen wird, ist nicht zuletzt Ausdruck von Widersprüchen und Gefahren der neoliberalen Entwicklungsstrategie. Deren entscheidender Kunstgriff besteht darin, durch die Bindung der heimischen Währung an den Dollar zugleich die niedrige Inflationsrate der USA zu importieren. Mit diesem Rezept schien es lange Zeit möglich, den Widerspruch zwischen Inflationsbekämpfung und Wirtschaftswachstum aufzulösen. Die damit verbundene Aufwertung der eigenen Währung führt jedoch in Kombination mit den Außenhandelsliberalisierungen zu einem fortgesetzten Leistungsbilanzdefizit. Das wiederum ist über einen längeren Zeitraum nur durch den kontinuierlichen Zufluss ausländischen Kapitals zu "finanzieren". Aus diesem Grund ist die Wirtschaftspolitik darauf ausgerichtet, günstige Anlagebedingungen (hohe Zinsen, geringe Inflationsraten, hohe Gewinnmargen) als Lockmittel für Investoren zu verankern. Freilich wirken sich diese Anreize häufig kontraproduktiv für die binnenwirtschaftliche Entwicklung aus. Die hohe Zinslast macht für kleine und mittlere Unternehmen, die das Gros der arbeitenden Bevölkerung beschäftigen, Investitionen fast unmöglich. Firmenkonkurse und eine da durch ausgelöste hohe Beschäftigungslosigkeit sind die Konsequenz. Ziehen sich die ausländischen Kapitale zurück, stürzt das ganze Entwicklungsmodell in sich zusammen.

Auch wenn Gewinne und Verluste der Integration sehr ungleich verteilt sind und der Mercosur seinem Anspruch nicht gerecht wird, ökonomisches Wachstum und soziale Gerechtigkeit zu verbinden, so ist dennoch primär nicht er für die jetzigen Krisenerscheinungen verantwortlich. Andererseits, das Fehlen einer Vermittlungsinstanz zwischen den Partnern erweist sich als ernsthafte institutionelle Schwäche. Der Mercosur hat keine Lösungen für die Wirkungen der brasilianischen Krise auf die Mitgliedsstaaten anzubieten - um so notwendiger ist eine Debatte über institutionelle Reformen. Mit den zuletzt getroffenen Vereinbarungen zwischen den Industrieverbänden über Einfuhrkontingente zeichnet sich jedoch ein Weg ab, den Mercosur zu stabilisieren.

Gerade in Anbetracht anstehender Verhandlungen bei der Millenium-Runde der WTO ist aber die Geschlossenheit der Mitgliedsstaaten von grosser Bedeutung. Schließlich geht es für den Mercosur um nichts Geringeres als den Zugang zu den Agrarmärkten der Industrieländer. Ist der endlich vorhanden, wäre es den Mercosur-Partnern möglich, eigene Außenhandelsdefizite zu reduzieren. Doch die Handelsliberalisierung auf seiten der Industrieländer ist nach wie vor von einer Abschottung des eigenen Agrarmarktes begleitet. Nicht zuletzt deshalb ist die Kritik, der Mercosur sei eine Fortführung protektionistischer Begehrlichkeiten auf nunmehr regionaler Ebene, zutiefst heuchlerisch.

Unser Autor ist Student der Politikwissenschaft an der Universität Marburg

Gemeinsamer Markt des Südens - Mercosur

Mit dem Tratado de Asunción wurde der Mercosur am 26. März 1991 gegründet. Mit einem aggregierten Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 1,2 Billionen Dollar ist er der viertgrösste Wirtschaftsblock der Welt. In ihm sind Brasilien, Argentinien, Paraguay und Uruguay als Voll- sowie Chile und Bolivien als assoziierte Mitglieder vereint. So umfasst dieser Verbund mit 233 Millionen Einwohnern fast die Hälfte der Bevölkerung und 65 Prozent der Wertschöpfung ganz La teinamerikas. Trotz der ambitionierten Bezeichnung "Gemeinsamer Markt des Südens" ist er bisher über den Status einer unvollständigen Freihandelszone und einer partiellen Zollunion nicht hinausgewachsen. Für 85 Prozent der Produkte herrscht im intraregionalen Handel freier Warenverkehr, die Aussenzölle gegenüber Drittländern liegen zwischen null und zwanzig - für einige Ausnahmen bei 35 Prozent.

Seit der Gründung 1991 hat sich der intraregionale Handel vervierfacht - mit 70 Milliarden US-Dollar entfällt ein Fünftel der Gesamtexporte der Mercosur-Länder auf den regionalen Warenverkehr. Wichtigster Handelspartner ist die EU, die über 20 Prozent der Exporte und über 25 Prozent der Importe abdeckt. Die USA liegen mit 14 Prozent der Ausfuhren und 22 Prozent der Einfuhren an zweiter Stelle. Die Mercosur-Ausfuhren in Drittländer bestehen zu 60 Prozent aus Primärgütern, was die niedrige Produktivität im Industriesektor widerspiegelt.

Eine regionale Markterweiterung soll den Unternehmen in den Mercosur-Staaten einen besseren Absatz eröffnen und somit als "Sprungbrett" in den Weltmarkt dienen. - Doch wird das bisher so erfolgreiche Integrationsprojekt seit Monaten von einem regelrechten Handelskrieg überschattet und steckt in seiner bislang schwersten Krise.

Auf Abstand - Mercosur und Europäische Union

Einen "umfassenden Freihandelsraum" zwischen den beiden Wirtschaftsblöcken soll es geben - nur der Zeitpunkt, wann es soweit sein wird, ist ungewiss. Derzeit steht nur soviel fest: Die offiziellen Verhandlungen will man während des WTO-Treffens in Seattle aufnehmen. Eine eher kosmetische Operation nach den für die Lateinamerikaner enttäuschenden Resultaten des Gipfels Mercosur - EU Mitte des Jahres in Rio de Janeiro. Brasilien, Argentinien und Chile hatten auf einen erleichterten Markzugang für ihre Agrarprodukte innerhalb der EU gehofft, waren jedoch am energischen Widerstand der Franzosen gescheitert. Präsident Chirac konnte durchsetzen, dass die EU frühestens ab 1. Juli 2001 einen Abbau ihres Zollschutzes ins Auge fasst, der keinesfalls über die bis dahin innerhalb der "Millennium Round" der WTO vereinbarten Liberalisierungen hinausgehen soll. Der Protektionismus auf beiden Seiten ist nach wie vor so stark, dass in der "Erklärung von Rio" bewusst auf Begriffe wie "Freihandelszone" oder "Freihandelsabkommen" verzichtet wurde. Allerdings verspüren die EU-Staaten auch einen weitaus geringeren Handlungsbedarf als die Mercosur-Gemeinde, denn obwohl ihre Exporte in der Regel eine Zollbarriere von 35 Prozent überwinden müssen, stiegen die Ausfuhren in die Mercosur-Staaten zwischen 1990 und 1998 um 159 Prozent - während umgekehrt die Mercosur-Gruppe nur ein 30prozentiges Wachstum ihres Warentransfers in die EU verbuchte.

Warenaustausch der Mercosur-Staaten mit Brasilien
Stand Ende 1997 (in Prozent)

Argentinien

30,2

23,0

Anteil am ExportAnteil am Importt
Mercosur-Vollmitglieder
Uruguay34,521,6
Assoziierte Mitglieder
Chile5,310,7
Bolivien2,711,4

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