Wenn man heute gefragt wird, was das Internet ist, dann denkt man an seinen völlig auf E-Mail umgestellten Briefverkehr, an Bücherlieferungen frei Haus, an den Börsengang von Google, an Filesharing, an den großen Dotcom-Crash vor einigen Jahren, an den Ärger mit der DSL-WLAN-Einrichtung. Kurz gesagt: Man besitzt schon eine eigene Internet-Biografie, das WWW ist kein Thema mehr sondern ein Bestandteil des Lebens. Die eigenen Anfänge verschwimmen allerdings immer mehr zu nebligen Legenden. Auch, weil sie einem vielleicht zu peinlich sind. Wie war das zum Beispiel mit dieser Webcam von der Kaffeemaschine, die man immer wieder aufrief, weil einem nichts Besseres einfiel?
Auf www.cl.cam.ac.uk/coffee/coffee.html wurde gezeigt, wie der aktuelle Pegelstand einer Kaffee
tand einer Kaffeekanne war, die man im Flur vor dem "Trojan Room" im zweiten Stock des Arup Buildings auf dem New Museums Areal der Universität Cambridge aufgestellt hatte. Mehr war niemals auf der Seite zu sehen gewesen. Nur ein kleines Schwarzweißbild einer Krups Pro Aroma, daneben die Aufforderung "Click here for an up to date picture of the Trojan Room Coffee Machine". 15 Wissenschaftler des Computer Science Departments konnten hier prüfen, ob es sich lohnte, den Weg zur Maschine anzutreten, ohne dass sie vor einer leeren Kanne stehen und womöglich selbst Kaffee kochen müssten. Denn obwohl sie sich in einem "Coffee Club" organisiert hatten, in dem mit Strichlisten überprüft wurde, dass die Arbeit an der Maschine gleichmäßig verteilt wurde, gab es laut Clubmitglied Quentin Stafford-Fraser immer wieder Probleme: "Der Ausflug dorthin war oft umsonst, wenn die nächtlichen Dauer-Hacker des Trojan Rooms einem zuvor gekommen waren. Diese Unterbrechungen unseres Forschungsfortschritts haben uns natürlich einigen Stress bereitet." Also setzten sie sich zusammen, um eine Lösung des Problems zu finden, und kamen auf die Idee mit der Kamera, für die Stafford-Fraser und Kollege Paul Jardetzky ein Programm namens "Xcoffee" schrieben, um auf den Computern des hausinternen Netzwerkes das Bild empfangen zu können. "Wir brauchten bloß einen Tag, um das ganze System zu konstruieren, aber es war nützlicher als alles andere, das ich jemals für ein Netzwerk geschrieben habe", meinte Stafford-Fraser.Im November 1993 war die erste Kamera kaputt. Stafford-Fraser und Jardetzky hatten ihren Doktorgrad und waren nicht mehr da, um das System zu reparieren, also bauten andere Wissenschaftler eine neue Kamera, schrieben das Programm etwas um und benutzen nun das WWW, um das Bild zu zeigen. Es entstand das, was "als das erste Live-Bild angenommen wird, das im sich gerade entwickelnden World Wide Web gezeigt worden ist". Und obwohl die Seite, wie es der spätere Kamerabetreuer Daniel Gordon ausdrückte, nur "unwesentlich aufregender war, als Farbe beim Trocknen zuzuschauen", zog sie im Laufe der Zeit 2,4 Millionen Besucher an. Übrigens nicht nur virtuelle, sondern auch ganz reale, die "alle zwei Wochen vorbeischauten, um die reale Kanne zu bestaunen", wie Betreiber Tim Harris während ihrer Laufzeit zu berichten wusste, "vor einigen Tagen war wieder ein Pärchen aus Texas hier. Die beiden waren wegen irgendeiner Konferenz in Cambridge und wollten unbedingt die Trojan-Room-Kaffeemaschine sehen." Stafford-Fraser erzählte auch von den Beschwerde-E-Mails aus anderen Zeitzonen, in denen eine 24-stündige Beleuchtung der Maschine angemahnt wurde, weil beim Surfen oft die englische Nacht erwischt wurde und nur ein schwarzes Bild zu sehen war.Was machte diese Seite so immens erfolgreich? Warum war es ein so großes und berichtenswertes Ereignis, als die Kamera abgeschaltet wurde, weil das Computer Lab in das neue William Gates Building in West Cambridge umzog? Es war immerhin eine Nachricht auf Seite 1 der Times. Warum war Spiegel Online bereit, die kaputte Kaffeemaschine, dieses "Stück Internet-Geschichte" für rund 5.000 Euro auf eBay zu ersteigern, um "die Tradition" fortzusetzen? Unter der reißerischen Überschrift Spiegel Online rettet die Trojan-Room-Kaffeemaschine" wurde die Ersteigerung detailliert als heroischer Akt und die Restauration als archäologische Unternehmung beschrieben.Auf den ersten Blick scheinen hier alle Klischees der Nerd-Kultur zusammenzukommen, deren Vertreter unnützen technischen Schnickschnack goutieren, Geld nicht in Diskotheken oder Boutiquen, sondern im Elektroladen verprassen, Sozialkontakte für Basteleien im Keller des Elternhauses vernachlässigen und deren Helden die analytisch überlegenen Mr. Spock und Data aus Star Trek sind. Aber wenn, dann würde diese Kategorisierung bestenfalls auf die Mitglieder des "Coffee Club" zutreffen, die lieber ein Überwachungssystem konstruieren, statt sich unnötige körperlicher oder sozialer Belastung zu unterwerfen. Millionen von Besuchern und Redakteure eines der am häufigsten frequentierten Netz-Magazine fallen nicht unter diese Kategorie. Was man stattdessen aus den Bemühungen von Spiegel Online ablesen kann, ist, dass versucht wird, an einem Kultphänomen teilzuhaben und von dessen Status selbst zu profitieren. Deshalb die bemühte Ironie durch pathetische Schilderungen, deshalb die Detailversessenheit und die Authentifizierungswut. Und um nicht Spiegel Online zu einem Epigonen abzustempeln und alle vorherigen Besucher der Kameraseite als die wahren Rezipienten erscheinen zu lassen, sei betont, dass diese selbstwertdienlichen Bemühungen jeden Teilnehmer eines Kultes auszeichnen, egal zu welchem Zeitpunkt er dazustößt.Es wäre allerdings präziser, von der Trojan-Room-Coffee-Machine nicht als einem Kult-, sondern als Camp-Phänomen zu sprechen. In dem Essay Anmerkungen zu Camp hat Susan Sontag 1964 diese Betrachtung der Welt unter dem "Gesichtspunkt eines besonderen Stils" analysiert als "Liebe zum Übertriebenen, zum Übergeschnappten, zum alles-ist-was-es-nicht-ist". Die Weltsicht des Camp ist die der "Anführungsstriche", es geht um den doppelten Sinn von einigen Sachen, "Camp in Personen oder Sachen wahrnehmen, heißt die Existenz als das Spielen einer Rolle begreifen". Die wichtigste Eigenschaft von Camp ist seine naive Extravaganz: So kann nichts wirklich Camp sein, das vorsätzlich so schlecht sein will, dass es wieder gut ist, "Camp, das weiß, dass es Camp ist, überzeugt in der Regel weniger".Wenn Sontag schreibt, Camp sei "esoterisch - eine Art Geheimcode, ein Erkennungszeichen kleiner urbaner Gruppen" und dass es ein Mittel zur "Theatralisierung der Erfahrung" sei, dann wird deutlich, dass es bei Camp um die Stiftung und die Zugehörigkeitsregelung von Gruppen geht, um Sozialisation. Und die Trojan-Room-Coffee-Machine als Camp zu begreifen, erklärt somit nicht nur die enormen Zugriffszahlen, sondern rechtfertigt auch die Beschwörungen ihrer historischen Bedeutung anlässlich ihrer Einstellung.In den Anfangsjahren des World Wide Web stiftete die Trojan-Room-Coffee-Machine Identität für die Gruppe der Internetbenutzer. Gerade durch ihre Absurdität und Nutzlosigkeit, ihre Esoterik, wie es Susan Sontag ausdrücken würde, konnte sie zum Erkennungszeichen der Ins-Netz-Eingeweihten werden: Sie hatten begriffen, was den Reiz ausmachte, und waren dabei; und dass alle anderen es nicht begriffen hatten und nicht dabei waren, definierte sie als Gruppe, gab ihr eine Form und machte sie identifizierbar. Das Internet, so konnten die einen in den ersten Jahren sagen, waren diese Menschen, die sich so verschrobene Dinge wie die Trojan-Room-Coffee-Machine anschauten. Die Extravaganz sorgte für ein wahrnehmbares Attribut.Gleichzeitig - und das war langfristig wichtiger für die Entwicklung des World Wide Webs als die Rekrutierung einer Pionier-Rezipientengruppe - konnte die Trojan-Room-Coffee-Machine auch als "epistemologische Metapher" im Sinne Umberto Ecos fungieren: "In jeder Epoche spiegelt die Art, in der die Kunstformen sich strukturieren - durch Ähnlichkeit, Verwandlung in Metaphern, kurz Umwandlungen des Begriffs in Gestalt -, die Art, wie die Wissenschaft oder überhaupt die Kultur dieser Epoche die Realität sieht, wider" - auch die spezielle Weise, in der die Wissenschaftler der Uni Cambridge die Möglichkeiten der neuen Technik World Wide Web nutzten. Als Camp-Phänomen besaß die Seite "demokratischen Geist" und demonstrierte "die Gleichwertigkeit aller Objekte", wie es Sontag analyisert. Wenn schon so etwas Überflüssiges wie eine Kaffeemaschinenkamera im Netz existieren konnte, dann gab es auch keine Beschränkungen für andere Unternehmungen, dann war alles in ihm möglich.Die Trojan-Room-Coffee-Machine schaffte, was Web-Erfinder Tim Berners-Lee zuvor beinahe vergeblich versucht hatte: den Menschen das Potenzial des neuen Mediums zu veranschaulichen. Noch in seinen Erinnerungen an die Frühzeit zeigt sich, wie abstrakt die Beschreibungen des World Wide Webs klingen mussten und wie sehr es auf einleuchtende Inhalte ankam, um die Botschaft verständlich zu machen. Die Vorstellung von Computernutzung war immer noch geprägt von der Ideologie der Interaktivität, von der Vorstellung, dass Menschen und Maschinen gleichrangige Kommunikationspartner sind. Dass man mit dem World Wide Web ein Mittel an die Hand bekam, um tatsächlich aktiv zu werden und einen Informationsraum zu gestalten, stellte eine grundlegende Veränderung im Verhältnis zum Computer dar und bedurfte intensiver Vermittlung."Die Leute dazu zu bewegen, ihre Daten ins Web zu stellen, war häufig eine Frage des Perspektivenwechsels: weg von der Vorstellung eines Benutzerzugriffs als Interaktion mit beispielsweise einem Onlinesystem und hin zu einer Vorstellung von Navigation durch einen Satz virtueller Seiten in einem abstrakten Raum. In diesem Konzept konnten Benutzer an jeder Stelle ein Lesezeichen setzen und zu diesem zurückkehren, und sie konnten Verknüpfungen zu beliebigen Stellen in anderen Dokumenten herstellen. Dies würde ein Gefühl der Beständigkeit vermitteln, einer stabilen Existenz jeder Seite. Es würde Menschen auch erlauben, jene mentale Anlage zu benutzen, die für die Erinnerung an Plätze und Routen angeboren ist. Wenn die Möglichkeit bestünde, auf alles gleich leicht zu verweisen, könnte das Web auch Assoziationen zwischen Dingen repräsentieren, die scheinbar ohne Beziehung sind, aber aus irgendeinem Grund trotzdem eine Beziehung zueinander haben", schreibt Tim Bernes Lee.Und genau in diesem Sinne funktionierte die Trojan-Room-Coffee-Machine als epistemologische Metapher. Anders als eine klassische Anwendungssoftware, die sich als millionenfach reproduzierbare Oberfläche auf jedem Computer der Welt befinden könnte, war die Seite mit der Webcam eine distinkte Adresse, ein bestimmter Ort, auf den man hinweisen und zu dem man sich bewegen konnte. Und sie zeichnete alles das aus, was Berners-Lee versuchte, abstrakt zu erklären: Man konnte ein Lesezeichen setzen und zu ihr zurückkehren, man konnte eine Verknüpfung zu ihr herstellen, denn sie war beständig, jedes Mal, wenn man selbst dem Camp-Phänomen frönen oder andere daran teilhaben lassen wollte, zeigte sie zuverlässig ihr Bild und verifizierte somit die Geschichte des Kultes. Die Trojan-Room-Coffee-Machine war etwas, an das man sich erinnern konnte, wenn man an das Web dachte, sie war ein besonderer Platz, eine kuriose Wegmarke in der mental map vom Internet, die im Bewusstsein seiner Nutzer gezeichnet wurde. Oder, um es mit den Worten des Conway-Magazins zu sagen: Sie war eine "Supernova aus der Kindheit des Internets".
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