Der erste Hinweis findet sich gleich zu Beginn. Während die Kamera bedrohlich langsam auf einen Fernseher zufährt, wird man auf eine danebenstehende VHS-Kassette aufmerksam. Es ist ein billiger Horrorfilm aus den 80ern mit dem Titel C.H.U.D., in dem sich radioaktive Monster in der Kanalisation von New York einnisten. Im Fernsehen hingegen, es laufen Nachrichten der Reagan-Ära, sind ganz normale Menschen zu sehen, die etwas Sinnvolles, wenngleich Merkwürdiges tun: Sie reichen einander die Hände, um eine Menschenkette zu bilden. Man schreibt den Mai 1986, und die Benefizkampagne „Hands Across America“ für die Armen und Obdachlosen in den Staaten sorgt für Aufsehen. Wenige Filmminuten später wird auch Wir von Monstern aus dem Untergrund erz&
s dem Untergrund erzählen, allerdings von zutiefst menschlichen. Und nicht als B-Movie, sondern als mit Hochspannung erwarteter Blockbuster.Der letzte Horrorfilm, der vergleichbar große Erwartungen schürte, war David Gordon Greens Halloween (2018). Doch während in der Fortsetzung des Klassikers eine alte weiße Frau dem Bösen den Garaus macht, übernimmt in Jordan Peeles Wir eine junge Afroamerikanerin die Führerschaft. Auf Jamie Lee Curtis folgt die nicht weniger, aber eben anders großartige Lupita Nyong’o. Das kann man als Zufall sehen oder, besser, als Verdienst des Regisseurs, Drehbuchautors, Produzenten und Oscar-Preisträgers Jordan Peele, der 2017 mit seinem Regiedebüt Get Out als erster schwarzer Regisseur einen ungemein erfolgreichen Horrorfilm vorlegte.Ich, ich, ich und ichGet Out, in dem ein junger afroamerikanischer Fotograf (Daniel Kaluuya) seine weißen Schwiegereltern in spe besucht und dabei nur knapp dem ihm zugedachten Schicksal als moderner Sklave entgeht, entwickelte sich zum Publikums- und Kritikerliebling. Dem Comedystar Peele war es gelungen, mitten in der Blackness-Diskussion Hollywoods einen cleveren Film zum Thema zu produzieren, der beim Zuschauen auch noch Vergnügen bereitete. Auch Wir bereitet Vergnügen – aber mehr noch Angst. Denn das kleine Mädchen, das zu Beginn vorm Fernseher sitzt, hat kurz darauf ein traumatisches Erlebnis. Adelaide (Lupita Nyong’o) besucht mit ihren Eltern einen Vergnügungspark am Strand in Nordkalifornien. Einen Augenblick väterlicher Unachtsamkeit später steht das Kind in einem Irrgarten – und in einem der vielen Spiegel sich selbst gegenüber. Oder seinem anderen Ich. Auf das gespenstische Thriller-T-Shirt, das der kleine Michael-Jackson-Fan stolz trägt, wird dieser Horrorthriller, man ahnt es schon, noch einmal zurückkommen. Denn die vielen popkulturellen Zeichen, die Peele unablässig über die Leinwand streut, gilt es auch zu lesen. Vom Verstehen kann da noch gar nicht die Rede sein.Adelaide kehrt zurück wie Alice zum Eingang des Kaninchenbaus. In der Gegenwart verbringt sie mit ihrem Mann Gabe (Winston Duke), Tochter Zora (Shahadi Wright-Joseph) und dem jüngeren Jason (Evan Alex) den Sommer im Strandhaus am Ort ihrer Kindheit. Adelaide wehrt sich gegen den Ausflug in den Park, der natürlich trotzdem stattfindet. Die Angst sitzt der jungen Mutter im Nacken. Irritierende Flashbacks aus der Vergangenheit künden vom kommenden Unheil, Verweise auf Bibelstellen und Bilder von weißen Hasen in vergitterten Käfigen verstärken das Unbehagen. Und dann ist da noch das befreundete weiße Paar (Elisabeth Moss, Tim Heidecker) am Strand: Es ist reich, hedonistisch und erscheint schon deshalb gefährdet. Die komischen und damit befreienden Momente, die Peele in Get Out zwischendurch platzierte, sind diesmal auf ein Minimum reduziert. Und dann stehen sie plötzlich da, diese vier Gestalten in roten Overalls, des Nachts mitten in der Einfahrt. Vater, Mutter und zwei Kinder. Wir.Über sie sollte man an dieser Stelle natürlich nicht allzu viel erzählen, außer vielleicht über den wichtigsten Satz der jungen Frau, die Adelaide zum Verwechseln ähnlich sieht: „We are Americans.“ Sie ist die Einzige, die sprechen kann, in einer aus kehligen Lauten geformten Sprache, so als ob sich das Unbewusste durch sie endlich Gehör verschaffen würde. Sie sind also Amerikaner, die typische Kleinfamilie, und natürlich meint dieses „wir“/„us“ auch „the US“, die USA. Dass dieser Satz wie die fürchterlichste Drohung klingt, hat auch damit zu tun, dass er die Doppelgänger erst zu dem macht, was sie sind. Dass er ihnen eine Identität zuschreibt.Von Michael Hanekes Funny Games bis zur Invasion der Körperfresser, von Alice in Wonderland bis zum Propheten Jeremia: Wir ist ein Film, der sich mit seinen unzähligen Referenzen, seiner ausgestellten Doppeldeutigkeit und den mythologischen Verweisen bewusst nicht nur als packender Horror-, sondern mehr noch als politischer Diskursfilm anbietet. Möglicherweise gerät auch deshalb alles, was in diesem Film Platz finden soll, gegen Ende außer Kontrolle. Und Jordan Peeles Idee von der buchstäblichen Ausweitung der Kampfzone ist nicht unbedingt seine beste. Das eigene Monster ist immer noch dann am schrecklichsten, wenn man ihm allein gegenübersteht.Dass Tonfall und Atmosphäre im Vergleich zu Get Out um so viel düsterer ausgefallen sind, liegt auch daran, dass Peele offensichtlich immer mehr zum Psychopathologen der amerikanischen Gesellschaft wird. Der Regisseur behandelt die modernen Erzählungen der Alltagskultur, den täglichen Rassismus und das große Verdrängen. Und er holt die Geister, die dieses Land nicht mehr loswird, aus der Versenkung. Ein zutiefst verstörender Film über die Bedrohung Amerikas durch sich selbst. Dem anderen die Hand zu reichen, dieses Zeichen einer einladenden Geste, wird in Wir jedenfalls in sein perverses Gegenteil verkehrt.Placeholder infobox-1
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