Ein Café in Berlin-Neukölln. Eigentlich hat es noch nicht geöffnet, aber der Wirt ist so freundlich, uns trotzdem in der Morgensonne einen Sitzplatz anzubieten. Milo Rau wirkt übermüdet, er ist erst vor wenigen Tagen aus Zentralafrika zurückgekehrt. In Bukavu inszenierte er sein Kongo-Tribunal, das nun am kommenden Wochenende in Berlin fortgeführt wird.
Der Freitag: Herr Rau, was kann das Theater in einem seit 20 Jahren andauernden Bürgerkrieg leisten, das ein Rechtssystem nicht kann?
Milo Rau: Die kongolesische Justiz ist abhängig von der Politik und der Wirtschaft und insofern komplett korrupt. Den Internationalen Gerichtshof kann man auch vergessen, er hat keine Mittel und würde sich nie an diesen Ort trauen. Die UNO ist abgesprungen, weil
r hat keine Mittel und würde sich nie an diesen Ort trauen. Die UNO ist abgesprungen, weil ihr das zu riskant war. So was kann man eigentlich nur als wahnsinniger Künstler machen.Was genau haben Sie in Bukavu zur Aufführung gebracht?Ein dreitägiges Tribunal über die Rolle der Minenindustrie im Kongo-Krieg. Wir haben drei besonders aussagekräftige Fälle von letztlich tausend verhandelt. Wir wollten wissen, wer die lokalen und internationalen Akteure in diesem Konflikt sind, und sie vor die Schranken des Gerichts rufen – eines richtigen Gerichts, mit echten Anwälten, einer Gerichtsordnung. Das Tribunal ist inszeniert, aber es gibt kein Skript und keine Schauspieler. Alle spielen sich selbst.Spielen hat ja immer auch eine große Ernsthaftigkeit, weil etwas passiert im Verhältnis zwischen den Spielern.Soziologisch betrachtet ist alles, was wir für real halten, ein Gesellschaftsspiel, das sich aber so fixiert hat, dass man seine Regeln einfach ausführt, ohne es zu merken. Im Theater kann man ein neues Spiel einführen; man kann bewusst spielen. Für mich ist es aber im Endeffekt wichtig, dass die Leute den Spielcharakter vergessen und sich auf normale Weise darin bewegen – und so sagen sie manchmal die Wahrheit. Quasi eine Hintertür ins Authentische hinein.Placeholder infobox-1Was für Menschen traten vor Ihr Kongo-Tribunal?Ich habe zwei Anwälte vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag als Gerichtsvorsitzenden und Untersuchungsleiter engagiert. Aber auch in der Jury, bei den Experten und Zeugen haben wir sehr auf Ausgewogenheit geachtet. Hier sitzen Leute von der Regierung, Vertreter der Minenfirmen, andere, die sich für Minenarbeiter einsetzen, Rebellen, Menschen, die vertrieben oder vergewaltigt wurden, europäische Beobachter.Und alle werden gleich behandelt?Genau. Jeder hat 20 Minuten, es ist exakt gestaffelt, wer wann was fragt. Es ist schon seltsam, wenn der Gouverneur neben einer Bäuerin sitzt. Es gibt keine kritische Öffentlichkeit im Kongo, keinen Dialog – wenn man Krieg nicht als Dialog betrachten will. Den gab es nur an diesem Ort. Das ist ein absolut künstlicher Vorgang, ein utopischer Raum, der sichnach diesen drei Tagen auch wieder geschlossen hat.Der Ausgang der Inszenierung, das Urteil, war offen. Was passierte in diesem Raum?Es geht um Gerechtigkeit, aber auch um die Darstellung eines Antagonismus, und das war fühlbar. Zum Beispiel wenn ein Minister sich verteidigt und seine Argumente so schlecht sind, dass die Zuschauer unwillkürlich lachen, weil sie plötzlich merken: Der Macht bleibt die Spucke weg. Die Regierungsvertreter haben sich angewöhnt, einen einseitigen Diskurs zu führen: Ich rede, die anderen hören zu. Bei mir mussten sie plötzlich Argumente bringen. Die ganze Staatssprache zerfällt; sie ist nicht mehr zu gebrauchen.Ein Moment der Demaskierung also.Total! Der Gouverneur hat im Lauf des Tribunals umgeschaltet, das war fast wahnwitzig – der ist zum Schluss quasi ins Boot der Opposition gestiegen. Er hat halt versucht, seinen Hals zu retten. Das war interessant. Die Minenfirmen und das Militär haben einen ganz anderen Diskurs, die tragen ihre fixen Positionen vor. Sie haben teilweise gute Argumente, weil die traditionelle Wirtschaft nicht gut funktioniert und die Rebellengruppen kaum besser sind als das Militär. Aber sie lassen sich nicht auf einen Dialog ein.Wie überzeugt man Militärs und Konzernvertreter, an einer solchen Inszenierung teilzunehmen?Sie kriegten mein ernsthaftes Interesse mit, dass ich über Monate und Jahre dranbleibe. Sie wissen, dass ich nicht irgendein Kunsttourist bin, der mal eben ein Projekt im Kongo macht; man kennt uns dort. Und sie nehmen mich auch ernst, weil ich nicht der normale postkolonialistische Linke bin, den man mit irgendwelchen Konzernmachtmärchen einlullen kann. Jeder geht zu Recht davon aus, dass er vor so einem Tribunal die Chance hat, seine Sicht der Dinge zu präsentieren. Es gibt nach 20 Jahren eine Ermüdung in diesem Krieg mit über sechs Millionen Toten und den Wunsch nach einer Lösung. Deshalb gab es eine gewisse Akzeptanz des Tribunals.Sie alle sind ein hohes Risiko eingegangen. Was bedeutete es für die Zeugen, bei diesem Tribunal öffentlich auszusagen?Wir haben ein sehr gutes Zeugenschutzprogramm entwickelt. Wir haben darauf geachtet, wie wir die Zeugen nach Bukavu bringen, wir haben sie auf der Bühne verschleiert, ihre Stimmen verändert – was die UNO zum Beispiel nicht macht. Bei so einem Projekt muss man aber auch akzeptieren, dass es schiefgehen kann. Aber die Zeugen eines Massakers etwa haben da eine sehr entschiedene Haltung. Die wollen einfach, dass die Wahrheit herauskommt, dass es Gerechtigkeit gibt.Geht das einfacher, wenn alles nicht „echt“ ist, nur ein „Als ob“?Sicher ist das ein Grund. Wobei die wenigsten begriffen haben, dass es kein richtiges Tribunal war. Ich inklusive. Von der Wirkung her war es dann ein richtiges Tribunal. Es wurden zum Beispiel zum ersten Mal die Namen von Generälen und Offizieren genannt, die an Massakern schuld sind. Es war ein öffentlicher Volksprozess mit großer Medienaufmerksamkeit. Momentan sind Lokalwahlen. Im Kongo, wo Gerechtigkeit nicht im Geringsten existiert, war diese symbolische Handlung eines Kongo-Tribunals einfach sehr, sehr wichtig.Was bedeutet es, quasi von außen mit einem solchen Projekt in einen postkolonialen oder gar neokolonialen Kontext zu kommen?Natürlich ist mein Blick präsent, ich bin ja trotz allem der Regisseur. Aber ich glaube, es ist funktional hilfreich, dass ich von außen komme, weil das jemand von innen so nicht machen kann. Der wichtigere Punkt aber ist: Es gibt im globalen Kapitalismus kein Außen. Wir befinden uns alle im Innenraum der gleichen Geschichte. Es ist für mich ein kolonialistischer Wahnglaube, zu meinen, uns ginge das nichts an, weil das irgendwie „ihre“ Dritte Welt ist. Wir sind nicht moralisch, sondern ganz konkret mitverantwortlich. Und diese Verantwortung nicht wahrzunehmen, weil das der „Blick des weißen Mannes“ wäre, ist grotesk. Das ist schlicht und einfach zynisch.Jetzt wird das Tribunal in Berlin fortgeführt. Was wird hier anders sein als in Bukavu?Wir werden nicht weitere Zeugen verhören, sondern versuchen, mit Experten die Hintergründe zu klären, basierend auf den Fällen, die wir im Kongo verhandelt haben. Zum Beispiel: Warum gibt es kein internationales Wirtschaftsrecht? Alle großen Firmen agieren ja global, postnational, und es ist deshalb eine Absurdität: Die können Leute umsiedeln, sogar umbringen im Kongo – wenn sie das hier machen würden, wäre die Konzernleitung sofort lebenslänglich hinter Gittern. Andere Fragen sind: Warum funktioniert die UNO nicht? Warum führen die milliardenschweren Bemühungen der großen NGOs kaum zu Resultaten? Und was sind die – oft verheerenden – Auswirkungen der US-amerikanischen und europäischen Gesetze gegen „Blutmineralien“?Wer soll darüber verhandeln?In der Berliner Jury sitzen nicht nur Kongo-Kenner, sondern globalisierungskritische Soziologen wie Harald Welzer und Saskia Sassen oder der Experte für Internationales Strafrecht Wolfgang Kaleck. Dieser zweite, analytische Schritt hin zu einer neuen Art der Wirtschaftsgerichtsbarkeit scheint mir absolut notwendig. Denn wenn wir das nicht tun, wer dann?Sie sagten mal, bei Theater gehe es darum, eine Situation der Entscheidung herzustellen.Ich habe gern Situationen, die einen Antagonismus erzeugen. Man muss sich entscheiden: Was macht man mit dem Material, was ist meine Konsequenz daraus? Man kann auf der Bühne beobachten, wie Leute sich in Entscheidungssituationen verhalten. Und in meinen Tribunalen oder Prozessen wird am Ende ja tatsächlich ein Urteil gefällt. Das interessiert mich, wenn Theater es fertigbringt, nicht nur Betroffenheit zu zeigen, sondern einen politischen Entscheidungsvorgang in Szene zu setzen. Das Gerichtsverfahren bildet Realität nicht ab, sondern stellt Realität her.Also schafft diese Aufführung auch eine Vision, weil letztlich ein Bild davon entsteht, was sein könnte?Ja. Man sieht die symbolisch hergestellte Vision dessen, was machbar ist. Es ist jede Welt machbar. Wenn man eine Situation wie bei meinem Tribunal in Bukavu hat, in der sich tausend Leute versammeln und Gerechtigkeit herstellen – zack! In drei Tagen! –, dann sieht man: Das geht doch! Natürlich ist es ein völlig absurder Aufwand. Aber Ausbeutung ist ja auch anstrengend, der globale Sklavenstaat ist auch anstrengend.Das klingt, als wären Sie trotz der brutalen Themen, mit denen Sie sich mit Ihrem International Institute of Political Murder seit Jahren beschäftigen, ein sehr optimistischer Mensch.Ja, aber wenn ich mit diesen Themen nicht arbeiten würde, dann wäre ich furchtbar pessimistisch und depressiv. Meine Antwort auf das Böse in der Welt ist es, es zu nehmen und in die Möglichkeit eines Wandels einfließen zu lassen. Denn es ist ja eigentlich unglaublich, wie einfach man alles komplett verändern kann. Man muss der Tatsache ins Auge schauen, dass wir keiner Tatsache ausgeliefert sind.Placeholder infobox-2
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