Zadeks Nackt und Thalheimers Hamlet in Hamburg

Bühne Wie Hamlet ist die junge Ersilia Drei aus Luigi Pirandellos 1922 in Rom uraufgeführtem Stück Die Nackten kleiden ein Mensch, der eine Gesellschaft in ...

Wie Hamlet ist die junge Ersilia Drei aus Luigi Pirandellos 1922 in Rom uraufgeführtem Stück Die Nackten kleiden ein Mensch, der eine Gesellschaft in die Luft jagt und dabei mit drauf geht. Am Hamburger St. Pauli-Theater und Thalia-Theater wurden am vergangenen Wochenende im Zentrum der Inszenierungen von Peter Zadek und Michael Thalheimer zwei Menschen gezeigt, die Lebenslügen der anderen zerstören und sich dabei selbst auslöschen.

In Zadeks erster Pirandello-Inszenierung ereignet sich von Beginn an alles mit großer Beiläufigkeit. Ein Straßenmusiker (Mauro Chechi) zupft auf der Gitarre eine sentimentale Melodie, singt dazu mit dünner Stimme. Er durchquert ein vollgestelltes Zimmer (Bühne: Karl Kneidl), in dem der Schriftsteller Ludovico Nota (Friedrich-Karl Praetorius) haust. Der selbstgefällige Dichter hat eine junge Frau mit auf das Zimmer genommen, die gerade einen Selbstmordversuch überlebt hat. Ersilia Drei war über die bevorstehende Hochzeit des Kapitänleutnants a.D. Franco Laspiga (Nikolai Kinski) mit einer anderen Frau so sehr enttäuscht, dass sie ihrem Leben ein Ende setzen wollte. Denn Laspiga hatte Ersilia am Vorabend seiner Hochzeit mit einer anderen Frau süße Worte der Liebe ins Ohr geträufelt.

Unter den eher mit lockerer Nonchalance hingetupften Figurenzeichungen der Schauspieler Kinski, Praetorius und Friedhelm Ptok, der einen verheirateten, altersgeilen Konsul gibt, ragt die Ersilia der Annett Renneberg heraus, weil sie spüren lässt, wie sehr die junge Frau an ihren zerbrochenen Träumen leidet. Zadek sieht sie als uomo vero, als einen wahren Menschen, der schutzlos der Verzweiflung ausgesetzt ist. Die Männer, die sie begehren und nehmen, retten sich in ihre Lebenslügen. Mit ihren letzten Worten bittet die junge Frau den Konsul und den Kapitänsleutnant a.D., sie allein zu lassen: "Nichts. Nackt sterben. Entblößt, erniedrigt, verachtet, so bin ich hier. Seid ihr zufrieden? (...) Geht, geht, du sagst es deiner Frau, du deiner Braut, diese Tote hier - hat sich nicht kleiden können." Ersilia fällt im Schlussbild einfach um. Sie hat genug von dieser Welt.

Von Antonio Gramsci gibt es die Überlegung, dass Pirandellos Komödien "Handgranaten" seien, "die in den Köpfen der Zuschauer zerplatzen, Banalitäten zum Einsturz bringen, die Gefühle und den Standpunkt verderben." Die Wucht einer Handgranate hat Zadeks Inszenierung nicht. Pirandellos verschachtelte Spiele zwischen Fiktion und Realität interessieren Zadek nicht; er lässt sie an sich vorüberziehen, um zu jener Ersilia zu gelangen, deren Leben nackte Existenz ist.

Auch Hamlet (Hans Löw) ist ein Wahrheitssucher, der mit den Repräsentanten des Königshauses in einen tiefen Konflikt gerät. Zunächst mimt Hamlet einen Heldenjüngling. Er schreitet mit aufgesetzter Pose an die Rampe und spricht seine Verse direkt ins Publikum. Doch je mehr Hamlet den Brudermord von Claudius (Felix Knopp) ans Licht bringen will, desto schneller zerbricht seine Fassade. Im Innern hat sich so viel Wut angestaut, dass sein edles Sprechen zu einem rohen Schreien wird. Die berühmten Verse "Sein oder Nichtsein" brüllt Hans Löw zunächst im finsteren Bühnenhintergrund aus seinem gepeinigten Körper, dann geht er gefasst an die Rampe und spricht den Monolog wie ein klassisch gebildeter Jüngling noch einmal mit ruhiger Stimme.

Hamlet hat eine tiefe Sehnsucht nach seiner Mutter Gertrud (Victoria Trauttmansdorff). Er sucht bei ihr Geborgenheit und Nähe, er sucht in seiner Mutter einen Menschen, der ihn in der Welt hält. Wie ein verlassener Knabe ruft er mehrmals "Mutter, Mutter, Mutter". Doch seine Rufe verklingen ungehört in der Finsternis von Helsingör.

Im Laufe seiner zweieinhalbstündigen Inszenierung bricht Michael Thalheimer die Personen immer weiter auf und zeigt sie in gespenstischer Blöße. Am Ende sind alle Akteure - wie in der ersten Szene - vorne an der Kante eines flachen, viereckigen Theaterpodests (Bühne: Henrik Ahr) versammelt und - tot. Horatio, Hamlets Freund und einzigen Überlebenden der Tragödie, hat der Regisseur und Dramaturg John von Düffel schon in der Textfassung gekillt und dadurch Hamlets Schutzlosigkeit noch verstärkt.

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