Zäune hoch, Schlagbäume runter

Schengen-Raum Wer in der EU Grenzen für Menschen schließt, kann sie auch für Güter kaum offen halten
Ausgabe 05/2016
Der größte Binnenmarkt der Welt – nicht ohne barrierefreie Handelsrouten
Der größte Binnenmarkt der Welt – nicht ohne barrierefreie Handelsrouten

Foto: Westend61/Imago

Schon das gerade abgehaltene Weltwirtschaftsforum in Davos musste sich einem erneuten Krisendiskurs öffnen. Dass die Weltökonomie dank der chinesischen, indischen und brasilianischen Talfahrt, des Verfalls der Öl- und sonstigen Rohstoffpreise, eines stagnierenden Welthandels und mancher Börsenturbulenz in einer Depression steckt, ist kaum zu leugnen. Wer etwa den Absturz des Baltic Dry Index seit Anfang Januar 2016 auf den niedrigsten Stand aller Zeiten zu deuten weiß, dem dürfte klar werden, dass schweres Fahrwasser droht. Schon einmal – im Januar 2008 – kündigte der Absturz dieses Barometers an (es bildet die Massengutfrachten im internationalen Schiffsverkehr ab, über 90 Prozent des Welthandels und 95 Prozent des EU-Außenhandels werden auf dem Seeweg abgewickelt), dass der Krisenmodus fortgeschrieben wird.

Mindestnorm für Europa

Nun winkt Europa im Sog der Flüchtlingskrise die nächste Zäsur. Wenn das Schengen-System nach dem Muster „Grenzen dicht“ ausgehebelt wird, wenn Zäune hoch- und Schlagbäume runtergehen, dann gerät die ohnehin schwächelnde europäische Wirtschaft weiter unter Druck. Kein Zufall, dass Unternehmerverbände in allen EU-Ländern davor warnen, sich auf diesen vermeintlichen Ausweg einzulassen. Es gäbe ihn nicht – den größten Binnenmarkt der Welt – ohne barrierefreie Handelsrouten. Der innereuropäische Warenaustausch, auf den gut zwei Drittel des gesamten Handelsvolumens in der EU entfallen, ist darauf angewiesen, dass Transportzeiten und -kosten nicht plötzlich steigen.

Vor 30 Jahren wurde der Schengen-Vertrag unterzeichnet, 1995 trat er in Kraft. Seither ist die Zahl der Schengen-Länder noch gewachsen; heute gehören 26 Staaten, darunter vier Nicht-EU-Mitglieder (Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz), zum Schengen-Raum. Bulgarien, Großbritannien, Irland, Kroatien, Rumänien und Zypern wollten draußen bleiben. Laut EU-Statistik-Behörde Eurostat ist Bewegungsfreiheit das, was EU-Bürger nach dem dauerhaften Frieden auf ihrem Kontinent am meisten schätzen. Davon profitieren Grenzgänger, die in einem Schengen-Land wohnen und in einem anderen arbeiten, in der Schweiz sind das sechs Prozent, in Luxemburg 46 Prozent der Beschäftigten. Wie alle Studien über transnationale Mobilität zeigen, wachsen grenzüberschreitende Finanzströme, wo immer sich die Bewegungsfreiheit von Menschen erhöht. Das Minimalprogramm der EU – der Transfer von Personen, Waren, Geld und Kapital – ist mit Schengen in seiner heutigen Form noch keineswegs ganz erreicht.

Gerade für Arbeitsuchende wäre noch viel zu tun. Umso mehr würde ein Rückbau des Schengen-Systems der immer noch bruchstückhaften Integration der Arbeits-, Waren- und Finanzmärkte in Europa schwer schaden.

Wer Grenzen in der EU für Personen schließt, muss sie unweigerlich auch für Güter schließen. Beim Handel mit EU-Staaten, wie ihn Deutschland im Vorjahr mit Exporten für 850 Milliarden Euro und Einfuhren für 640 Milliarden Euro abgewickelt hat, würden künstlich belastete Verkehrswege Milliarden an Mehrkosten verursachen, was Konsumenten überall in Europa zu spüren bekämen.

Relikt des 19. Jahrhunderts

Großbritannien hat sich Schengen stets verweigert, um Migranten abzuwehren – tatsächlich wurde der Migrationsdruck dadurch nicht geringer. Derzeit überlässt es die Regierung in London Frankreich, den Eingang zum Kanaltunnel in Calais für Flüchtlinge zu blockieren. Aber keine noch so rigide Grenzkontrolle wird die EU-Länder davor bewahren, mit den Folgen ihrer verfehlten bzw. fehlenden Nahost- und Nordafrika-Politik konfrontiert zu werden.

Schengen aufzugeben, käme den Europa-Feinden – Skeptiker ist wohl ein unangebrachter Euphemismus – nicht ungelegen. Die offenen Grenzen haben bei einer Mehrheit der EU-Bürger, die von der Reisefreiheit Gebrauch machen, zu einem langsam, aber sicher wachsenden Europa-Patriotismus geführt. Gerade Jüngere, die in mehreren EU-Ländern studiert, gearbeitet und gelebt haben, fühlen sich mehr und mehr als Europäer. So soll es sein, wenn wir den Nationalismus, dieses Relikt des 19. Jahrhunderts, endlich ins Museum für skurrile Altertümer verbannen wollen.

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