Als Ivan Illich am 2. Dezember vergangenen Jahres überraschend starb, hatte er diesen Artikel noch am selben Morgen ein letztes Mal mit Anmerkungen versehen. Der Beitrag ist das Ergebnis langer Diskussionen, die ich mit ihm über die Probleme statistischen Risikodenkens geführt habe; er erscheint an dieser Stelle in stark gekürzter Form. S.S.
Vor bald 30 Jahren fand eine Studie des National Institute of Mental Health heraus, dass ein Großteil der Patienten die Praxis ihres Arztes mit einem Rezept für ein Valium-Präparat oder einen anderen Tranquilizer verließ. Die Studie löste damals eine heftige Debatte über die Schäden einer solchen Massen-Betäubung aus. Heute laufen Patienten nicht nur Gefahr, sich durch abenteuerliche Behandlungen ihre Gesundheit, sondern durch statistische Vorhersagen auch ihre Zukunft ruinieren zu lassen. Ob bei der Krebsvorsorge, beim Check-up während der Schwangerschaft oder nach einem Magengeschwür: Fast unvermeidlich handeln sich Patienten hier ein ärztlich attestiertes "Risiko" ein, das dann als vermeintliche Prognose wie ein Damoklesschwert über der Gegenwart hängt. Diese neue epidemische Verunsicherung, verursacht durch die Verwechslung eines Risikoprofils mit einer ärztlichen Diagnose, ist jedoch bisher der kritischen Diskussion entgangen.
Von der Missverständlichkeit statistischer Wahrscheinlichkeiten
Mit seinem Buch Das Einmaleins der Skepsis. Vom richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken macht Gerd Gigerenzer sowohl den Einfluss als auch die Missverständlichkeit statistischer Wahrscheinlichkeiten zum Thema. Zunächst klärt er seine Leser darüber auf, dass sie in die Irre geführt werden, wenn sie sich von Testresultaten Sicherheit erhoffen. Verfahren wie die Mammographie, der Nachweis von HIV-Antikörpern im Blut oder der Gentest auf Fettleibigkeit produzieren zwar massenweise neue Daten - aber Aussagen darüber, was mit jemandem ist, erlauben sie nicht. Statt dessen weiten sie das Spektrum an beängstigenden Möglichkeiten aus, was alles sein oder werden könnte. Anhand der Datenflut errechnen Statistiker Wahrscheinlichkeiten, die, von Krankenkassen und Epidemiologen als "Risiken" interpretiert, schließlich für den Patienten zu scheinbaren Bedrohungen gerinnen. Mit dieser Blauäugigkeit möchte Gigerenzer nun ein für allemal Schluss machen. Er hält die Zeit für gekommen, in der Homo educandus nicht nur das "Abc" und das "Einmaleins", sondern auch die Regeln der Wahrscheinlichkeitsrechnung büffeln sollte. Sie sollen vor faulem Zahlenzauber schützen, aber auch seine Leser davon überzeugen, dass das kritisch ausgewertete Wahrscheinlichkeitskalkül der Inbegriff aufgeklärten Denkens ist. Nicht nur die Illusion, ein HIV-Test wäre eine Diagnose oder ein genetischer Fingerabdruck ein Schuldbeweis, möchte er seinen Schülern austreiben, sondern ganz grundsätzlich jegliches Gefühl von intuitiver Gewissheit. Weil die menschliche Evolution mit dem Fortschritt der Technik nicht mithalten konnte, behauptet der Psychologe, ist auf die eigenen Sinne kein Verlass mehr. Das Vertrauen in die Wirklichkeit täuscht. Wer sich nach der Lektion weiter auf sein eigenes Gefühl von Gewissheit verlassen will, anstatt Chancen und Risiken abzuwägen, bleibt nicht nur zurück, sondern begibt sich in Gefahr.
Wer in einer technogenen Welt nicht verschaukelt werden will, meint er, dem bleibt nichts anderes übrig, als ihre Gesetzmäßigkeiten zu den eigenen zu machen: "Mein Anliegen ist es, einfache und leicht verständliche Regeln des Klardenkens zu vermitteln, die uns allen dabei helfen können, uns in den unzähligen Ungewissheiten in unserer modernen, von der Technik dominierten Welt zurechtzufinden" . Die Fälle, mit denen er die Notwendigkeit geschulten Wahrscheinlichkeitsdenkens im Alltag illustriert, stammen weitgehend aus der Medizin und dem Rechtswesen. Beeindruckend sind da Gigerenzers Beispiele pathogener Diagnostik: Gesunde Männer unterziehen sich der Prostatakrebs-Früherkennung, weil sie glauben, dadurch den Krebstod abzuwenden; der einzig nachweisbare Effekt dieses Screenings ist jedoch, dass einige durch anschließende Behandlungen impotent und inkontinent werden. Eine ganze Reihe von Menschen hält sich nach einem Test irrtümlich für HIV-infiziert und begeht deshalb Selbstmord. Jährlich unterziehen sich rund 100.000 deutsche Frauen, die keinen Brustkrebs haben, aufgrund eines falsch-positiven Mammogramms einem operativen Eingriff - von Gewebeproben bis hin zu Verstümmlungen.
Als Aufklärung über die lebensbedrohlichen Folgen der Illusion, man könne sich seiner Gesundheit ebenso wie ärztlicher Dienste versichern, ist das Einmaleins der Skepsis wirklich hervorragend. Nachdem man verstanden hat, dass von zehn Frauen mit einem positiven Mammographiebefund nur eine einzige Brustkrebs hat, oder dass in der Normalbevölkerung nur jeder zweite positive HIV-Test eine Infektion anzeigt, lässt man sich von solchen Tests nicht mehr so leicht ins Bockshorn jagen.
Mündiger Bürger oder informierter Konsument?
Gigerenzer hat gut verstanden, dass der Medizinbetrieb ein herausragendes Beispiel ist für die Irrationalität einer Gesellschaft, die vom Glauben an technische Machbarkeit beherrscht wird. Durch seinen nüchternen Blick auf die "harten Fakten" gelingt es ihm, seine Leser nachhaltig zu desillusionieren. Die "Mammographie-Illusion" dient ihm als Paradebeispiel, anhand dessen er auf überzeugende Weise die Zweckwidrigkeit der sogenannten Früherkennung demonstriert. Die Frage, wie eine solche pathogene Diagnostik überhaupt zum Bedürfnis werden konnte, stellt er nicht. Und er bemerkt auch nicht, dass er selbst der Form des Kohortendenkens aufsitzt, durch das der einzelne Bürger zu einem gesichtslosen Mitglied einer Grundgesamtheit mutiert.
Ein "persönliches Risiko" ist nämlich ein Widerspruch in sich. Dass der Psychologe, der sich seit Jahren mit der Popularisierung statistischer Begrifflichkeiten beschäftigt, dieses Paradox an keiner Stelle behandelt, ist wohl die größte Schwäche des Buches. Wahrscheinlichkeiten beziffern die Häufigkeit eines Ereignisses in einer fiktiven Kohorte, in einer Grundgesamtheit - das macht Gigerenzer soweit noch deutlich. Über die begrenzte Aussagekraft einer solchen Wahrscheinlichkeit und ihre eigenartige Wandlung zum bedrohlichen "Risiko", sobald sie in die klinische Praxis auswandert, verliert er jedoch kein Wort. Dabei hätte Gigerenzer hier die Gelegenheit gehabt, auf die missverständliche Annahme aufmerksam zu machen, ein ärztlich attestiertes "Risiko" würde den Grad der Bedrohung eines Patienten beziffern. Wenn er obendrein, wie er es gelegentlich tut, die statistische Wahrscheinlichkeit und die erlebbare "Gefahr" in einen Topf wirft, dann tappt er selbst in die Falle, die zu vermeiden er angetreten ist: Er verleiht einer abstrakten Häufigkeit scheinbare Konkretheit und lädt sie dadurch mit umgangssprachlicher Bedeutung auf. Er verwandelt also ein statistisches Konzept in eine vermeintlich erfahrbare Wirklichkeit.
Im Einmaleins der Skepsis schrumpft der "mündige Bürger" auf einen "informierten Konsumenten" zusammen. Auf eine gesunde Skepsis gegenüber den Bedeutungsansprüchen eines ärztlich attestierten "Brustkrebs-Risikos" oder gegenüber abstrakten Laborergebnissen wie "HIV-positiv" oder "Trisomie 21" kommt es dem Autor auch gar nicht an. Wenn er von der Kontraproduktivität des modernen Medizinsystems berichtet, dann hält er nicht den Gesundheitswahn der Gesellschaft für die Wurzel des Übels, sondern das, was dieser Wahn zu überwinden verheißt: eine veraltete conditio humana.
Gerd Gigerenzer: Das kleine Einmaleins der Skepsis. Über den richtigen Umgang mit Zahlen und Risiken. Berlin 2002.
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