Franz Schuberts Ave Maria steigt in den vorpommerschen Himmel. Der Tenor Vanno Tadéo Levoni, in Armenien geboren und in den Opernhäusern von Florenz und Barcelona zu Hause, steht zwischen Kartoffeln und Kohlrabibeeten. 20 Kindergartenkinder wiegen sich im Takt. Am Ende drückt ein dunkelhäutiges Mädchen dem Sänger eilig gepflückte Blumen aus einem der Beete in die Hand. Auf der Bühne würde jetzt der Vorhang fallen. Hier, im Interkulturellen Garten in Neubrandenburg, hocken Künstler und Kinder noch länger zusammen im Gras. Was fängt man miteinander an, wenn man keine gemeinsame Sprache spricht?
Mitleid ist keine Hilfe
Auf einer Fläche von ungefähr 4.000 Quadratmetern wachsen im Neubrandenburger Reitbahnviertel exotische Kr
itbahnviertel exotische Kräuter und Gemüse aus Ruanda und Mauretanien neben heimischen Erdbeeren und Radieschen, Kohl und Kartoffeln. Zwei Meter hohe afrikanische Okrasträucher und russischer Buchweizen wuchern. Es gibt hier keine Zäune, dafür schnurgerade Wege und akkurat angelegte Beete, die Migranten und Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan und Nordafrika sowie deutsche Familien, Kitagruppen und Schüler aus der Nachbarschaft gemeinsam beackern sollen. Die Gemeinschaftsflächen sind für Märchenaufführungen, Feiern, Spiele und Konzerte reserviert.Gemeinsames Tanzen, Kochen und Gärtnern sei sinnvoller für erfolgreiche Integration als Sonntagsreden, findet Gerlinde Brauer-Lübs, Geschäftsführerin des Soziokulturellen Bildungszentrums Neubrandenburg e. V., zu dem der Garten gehört. „Denn Integration geht durch Herz, Kopf und Magen.“ Aber ist es wirklich so einfach?Interkulturelle Gärten haben ihre Wurzeln in Großstädten wie New York, Buenos Aires und Toronto. Hier entstanden in den 1990er Jahren Gemeinschafts- und Nachbarschaftsgärten, die Menschen aus unterschiedlichen Schichten und Regionen durch gemeinsame Arbeit in der Natur zusammenbringen wollten. Auch in Deutschland gibt es sie seit rund 20 Jahren. Sollte ausgerechnet in einem Garten gelingen, was in der Gesellschaft so schwer geht? Gerlinde Brauer-Lübs rät: „Sprechen Sie mit Marcelina!“ Die Frau mit dem strahlenden Lächeln befreit in einem Hochbeet gerade Sonnenblumen von Quecken und Schachtelhalm. Marcelina Labs setzt sich auf eine Bank neben dem Beet und erzählt zögernd, dann immer eindringlicher ihre Lebensgeschichte. Die 49-Jährige wächst auf der nur neun Quadratkilometer großen Insel Ibo im Norden Mosambiks als Tochter eines Krankenpflegers auf. Eine glückliche Kindheit hat sie nicht, von 1976 bis 1992 tobt ein blutiger Bürgerkrieg. Der macht auch vor Labs Familie nicht halt. Als sie 14 ist, wird das Auto ihrer Familie von einer Landmine zerfetzt. Der Vater stirbt, Marcelina Labs überlebt, lebensgefährlich verletzt und schwer traumatisiert. Die Ärzte in der Hauptstadt Maputo wollen ihre Beine amputieren, doch Labs rebelliert: „Ich wollte nach Europa. Dort würde ich meine Beine behalten und eigenes Geld verdienen können.“Sie kommt 1988 als sogenannte Vertragsarbeiterin in die damalige DDR. Sie schuftet im Kunstseidenwerk Pirna und versteckt ihre Beine hinter Hosen und langen Röcken. Ihre verletzte Seele soll ohnehin niemand sehen: „Ich wollte kein Mitleid.“ Marcelina Labs findet kaum Freunde in Sachsen. Ist es das Desinteresse der Kollegen? Weil sie eine Fremde bleibt, kein Deutsch lernen kann, keinen Ausbildungsplatz bekommt, kehrt sie 1990 nach Mosambik zurück. Sie kümmert sich in provisorischen Zeltlagern um Waisenkinder. Überfälle, Hunger, Durst, sexuelle Gewalt und die Angst vor Minen sind Alltag. Aber sie bleibt, der Kinder wegen. Erst als sie nicht mehr gebraucht wird und die Hoffnungslosigkeit immer größer wird, will Marcelina zurück nach Deutschland. Nach Umwegen landet sie im Interkulturellen Garten Neubrandenburg.Sie bekommt ein eigenes Beet, in das sie Gurken, Kohl, Kartoffeln pflanzt. Sowie Zuwendung, Wärme und Selbstvertrauen. Brauer-Lübs und ihre Mitarbeiter kümmern sich um die junge Frau, die das Lachen verlernt hat. Mit einer Fibel bringen sie ihr erste deutsche Sätze bei, die Aussprache wird bei der Gartenarbeit geübt. Beim Umgraben, Säen und Unkrautzupfen findet Marcelina Labs Abstand zu den Schrecken und Freunde: Flüchtlinge und Freiwillige aus der Nachbarschaft. Sie belegt Kurse an der Volkshochschule, macht die Mittlere Reife und schließlich eine Ausbildung zur Krankenschwester.Inzwischen betreut sie als Fachkraft autistische Kinder. „Ohne den Garten hätte ich keinen Boden unter die Füße bekommen. Er war mein Anker“, sagt sie.Dieser Anker ist der resoluten Zuversicht von Gerlinde Brauer-Lübs zu verdanken. Als die heute 65-Jährige 1993 mit einer Handvoll Mitstreiter das Projekt gründet, liegen die Pogrome von Rostock-Lichtenhagen nur Monate zurück. Im selben Jahr waren in Mecklenburg-Vorpommern 207 rechte Gewalttaten registriert worden – und die CDU wetterte in einer Kampagne gegen „Asylbetrüger“. Brauer-Lübs will dem fremdenfeindlichen Klima begegnen. Sie gründet ein Café, in dem sich enttäuschte und wütende Bürger Frust von der Seele reden können. Und spürt: „Mitleid ist in der soziokulturellen Arbeit ein schlechter Ratgeber. Will man Menschen helfen, muss man Hilfe zur Selbsthilfe organisieren.“ Zehn Jahre später fängt sie mit den Planungen für den Interkulturellen Garten an.Bolzen mit dem SchwarzenEr soll keine heile grüne Welt sein, sondern Menschen unabhängig von Herkunft und sozialem Status zusammenbringen. Finstere Vorurteile sind die Reaktion: „Ausländer? Die riechen doch. Und machen Lärm“, bekommt Brauer-Lübs auf Ämtern zu hören, als sie nach einem geeigneten Stück Land fragt.Sie überredet den Neubrandenburger Oberbürgermeister dann, dem Verein eine teils mit Schutt übersäte Brachfläche zu verpachten, in einer Plattenbausiedlung, die Politiker als sozialen Brennpunkt sehen. Die Arbeitslosigkeit ist dort so hoch wie die Angst vor der Zukunft. Brauer-Lübs bemüht sich deshalb auch um die deutschen Nachbarn. „Willkommenskultur funktioniert nur in beide Richtungen“, sagt sie. Eine in den Garten geworfene Handgranate und an Wände geschmierte Hakenkreuze ignoriert sie, lädt stattdessen zu Gartenfesten ein, bei denen Flüchtlinge Gerichte aus ihrer Heimat kochen. Mit Erfolg. Zuerst kommen Kinder, dann ihre Eltern und schließlich Kleingärtner, die vorher nur heimlich die Größe der Kürbisse und Melonen bewunderten. Manche von ihnen engagieren sich heute als Ehrenamtler. Einer von ihnen ist Karsten „Mühle“ Mühlbrett. Der 54-jährige gelernte Zerspanungsfacharbeiter wohnt nur wenige Minuten vom Interkulturellen Garten entfernt, sein Schrebergarten ist in Sichtweite. Trotzdem schüttelte „Mühle“ jahrelang den Kopf, wollte lieber seine Ruhe. Erst Arbeitslosigkeit und eine schwere Krankheit änderten seine Meinung. Er fragt bei Gerlinde Brauer-Lübs an und kann im September 2016 als Bundesfreiwilliger anheuern. Seither kümmert er sich um selbst gezogene Gurken und um Gartenbesucher. „Neulich habe ich spontan in der Neubrandenburger Moschee vorbeigeschaut, hab den Gläubigen von unseren Projekten erzählt und gefragt, ob sie bei uns mitmachen wollen.“ Er hat etwas über die anderen gelernt. Und über sich. Amri Habimana aus Ruanda steht mit einer Gießkanne neben den Gewächshäusern. Von Deutschland hörte er in der Schule seiner Heimat als Kolonialmacht. Mit zwölf Geschwistern wächst er in Kigali, knapp unterhalb des Äquators, auf. Sein Vater, ein Arzt aus dem Kongo, wird erschossen, als Amri drei Jahre alt ist. Musik gibt ihm Halt, und Fußball. Amri spielt in der Ersten Liga Ruandas und träumt von einem Leben als Profi. Nach dem Genozid in Ruanda 1994, macht er sich an die Flucht. Ein deutscher Frachter bringt ihn nach Hamburg. Das erste deutsche Wort, das er lernt: Asylantrag. Von manchen Deutschen wird er beschimpft, zusammengeschlagen. Schließlich holt Gerlinde Brauer-Lübs ihn nach Neubrandenburg. Als die Handgranate in den Beeten des Gartens landet, glaubt Amri, dass ihn die Schrecken seiner Flucht einholen. Und will die Koffer packen. „Chefin, die wollen uns hier nicht!“ Brauer-Lübs antwortet gelassen: „Sie wollen uns, aber sie kennen uns noch nicht. Hilf, dass sie uns kennenlernen!“Amri bleibt und pflanzt mit Kindern Salat und Möhren. Er singt, bolzt und kocht mit ihnen. Dass die am Anfang oft Angst vor ihm haben, nimmt Amri mit Humor: „Im Märchen haben sie immer vom bösen schwarzen Mann gehört, der die Kinder holt. Nun stehe ich vor ihnen.“
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