Zunächst klingt es nach reißerischem Melodrama mit sozialkritischen Untertönen: Michail Jelisarow erzählt in Die Nägel die Geschichte zweier Findelkinder, die aufgrund ihrer körperlicher Gebrechen - der eine hat einen Buckel, der andere einen verformten Schädel - im Kinderheim für geistig Minderbemittelte aufwachsen. Nach einer mehr oder weniger unerfreulichen Kindheit werden sie mit 18 Jahren in die große Stadt, nach Moskau entlassen. Der bucklige Gloster - vom diensthabenden Arzt in Erinnerung an Shakespeares körperbehinderten Helden, den Herzog von Gloucester, Richard III. so genannt - macht dort bald als Klaviervirtuose Karriere, während sein Freund Bachatow ein stilles Klempnerdasein fristet. Erst langsam versteht Gloster, dass se
r, dass sein Erfolg auf mysteriöse Weise beeinflusst wird von geheimen Ritualen, die Bachatow in regelmäßigen Abständen nicht ohne Qual an seinem missgestalteten Körper vollzieht.Schon der Versuch der oberflächlichen Nacherzählung macht bewusst: Es ist weniger eine soziale, als vielmehr eine sprachliche Entgrenzung, die Jelisarows Geschichte heikel und spannend zugleich macht. Die ideologiekritische Sprachaufklärung, die sich darauf verlegt hat, das Reden über die Welt zu verändern, auf dass sie dadurch eine bessere werde, hat einige Bereiche sehr erfolgreich tabuisiert. Seither verbietet es sich eigentlich, von »Schwachsinnigen« zu reden, und selbst beim »Buckligen« hört man die Ermahnung zur political correctness: Müsste es nicht heißen: physisch anders begabt? So ist es ein Glück für den in der Ukraine geborenen und in Berlin lebenden Jelisarow, dass sein kleiner Roman aus dem Russischen übersetzt wurde, wird in Übersetzungen doch so manche Übertretung des sprachlichen Comme il faut nicht nur verziehen, sondern sogar gewünscht.Jelisarows Sprache ist also alles andere als pc, weshalb seine Geschichte zweier verkrüppelter Knaben im Russland der Perestrojka auch gar nicht auf jene Rührung hingeschrieben ist, die vergleichbare Stories von Misshandelten und Geächteten hervorrufen. Obwohl das naturalistische Sujet es scheinbar nahe legt, hat Jelisarows Die Nägel auch wenig gemein mit jener Schreckens- und Schock-Prosa, mit der sich Wladimir Sorokin und Wladimir Jerofejew, die wohl derzeit im Westen bekanntesten russischen Schriftsteller, soviel ehrfürchtigen Respekt verschafft haben. Von sexuellem Missbrauch, unappetitlichen Nägelkau-Riten und anderen Scheußlichkeiten des postmodernen zwischenmenschlichen Umgangs berichtet Jelisarows Ich-Erzähler Gloster in leichtem Plauderton und ohne jene genießerische Lust am Ekel, die zum Beispiel vor allem Sorokins letzte Romane auszeichnet. Streckenweise fast zu entspannt, bekommt Jelisarows Kurzroman besonders dort eine packende Doppelbödigkeit, wo er den Spott der Gesellschaft schildert, dem seine beiden Helden immer wieder ausgesetzt sind. Gloster nämlich fühlt mit denjenigen mit, die ihn verhöhnen. Er weiß, dass sie nicht anders können - und wird sich doch immer wieder grausam rächen.Der bucklige Gloster ist ein Verwandter all jener »abjekten« Erzähler, die eine Gesellschaft von ihren Rändern her beschreiben. Zwar fehlt ihm das galante Element und auch das Geschick der Tore und Schelmen, sehr wohl aber teilt er mit ihnen das radikale Außenseitertum und das ungewöhnliche Glück im Unglück. Seine gewaltigen Hände, die Münzen falten können, und der musikalisch ein Eigenleben führende Buckel rücken ihn aber mehr noch in die Nähe der Monster aus Gruselliteratur und Billig-Horrorfilm. Wie diese, wird Gloster durch sein Ausgestoßensein aus einer sich transformierenden Welt zu einem symbolischen Repräsentanten altmodischer Regungen. Die hässlichen Körper sind Camouflage, Kassiber für aussterbende schöne Seeleneigenschaften wie wahre Liebe und treue Freundschaft - bis in den Tod. Analog dazu ist die Form der ironischen Pulp Fiction, die Jelisarow hier als Genre wählt, letztlich eine Verkleidung für die Trauer um ein Stück Sowjetliteratur.Die sichere Leichtigkeit des Jelisarowschen Stils zieht den Leser in diese merkwürdige Geschichte hinein und lässt ihn bis zum Schluss nicht mehr los. Zügig und verspielt in einem führt der Autor mit Glosters traurig-altmodischer Jahrmarktskarriere zugleich ein kleines Kaleidoskop der russischen Übergangs-Gesellschaft vor. Da gibt es eine Reihe »alter Russen«, wie zu Beispiel den Heimleiter Ignat Borisowitsch, der Gutherzigkeit mit bürokratischem Kleinmut vereinbart. Besonders gelungen aber ist Jelisarow sein Kurzporträt des »neuen Russen« in der Gestalt des Impresarios Mikula Antonowitsch, der Glosters Karriere befördert. Im heutigen Russland allgegenwärtig, ist diese neue Spezies im alten Europa noch nicht ganz wieder angekommen, obwohl ihre Vorfahren sich nicht nur in den Romanen des 19. Jahrhunderts in den Kur- und Spielstätten des Westens tummelten und großen Eindruck hinterließen. Mit nur wenigen Strichen führt Jelisarow eine Figur mit großem literarischen Potential vor Augen: eine bestechende Mischung aus verschwenderischer Generösität und kommerziellem Egoismus, aus westlicher Konsumorientiertheit und einer neu erfundenen »altrussischen« Identität, zärtlich und brutal, total reaktionär und absolut modern.Michail Jelisarow: Die Nägel. Roman. Aus dem Russischen übertragen von Hannelore Umbreit. Reclam Verlag Leipzig 2003. 120 S., 14,90 EUR