FREITAG: Warum sind Sie gegen die Wehrpflicht?
ANGELIKA BEER: Erstens, weil sie sicherheitspolitisch nicht legitimiert ist, zweitens, weil wir Zwangsdienste grundsätzlich ablehnen, drittens, weil wir - nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs - kein Nebeneinander von Zwangspflicht für Männer und Freiwilligkeit für Frauen wollen.
Aber wenn man nun aus sicherheitspolitischen Gründen eine bestimmte Anzahl von Wehrpflichtigen bräuchte? Dann könnte man sich möglicherweise auf Freiwilligkeit allein nicht verlassen?
Freiwilligkeit in der Gesellschaft ist für uns ein Grundprinzip, das wir umsetzen wollen. Deshalb fördern wir jeglichen Freiwilligendienst, egal in welchem sozialen oder ökologischen oder Friedensdienstbereich. Seit ihrer Gründung haben sich die Grünen gegen die Wehrpflicht ausgesprochen, und heute haben wir noch mehr Argumente als damals: das Ende des Ost-West-Konflikts, die Tatsache, dass Deutschland nicht mehr unmittelbar bedroht ist. Im Grundgesetz steht eine Kann-Bestimmung: der Staat hat das Recht, eine Wehrpflicht zu erlassen. Diese Voraussetzung ist einfach nicht gegeben.
Die Grünen befürworten 200.000 Berufs- und Zeitsoldaten. Warum gerade diese Zahl?
Wir wollen zwar keine Bundeswehr nach dem Spardiktat, was uns immer vorgeworfen wird, aber klar ist, dass die Bundeswehr genauso sparen muss wie alle anderen Ressorts im Rahmen der Haushaltskonsolidierung. Ein weiterer Ausgangspunkt ist, dass Sicherheit für Deutschland nicht militärisch definiert werden kann. Wer Sicherheit auf Personenstärke reduziert, hat die Entwicklung der letzten 15, 20 Jahre verschlafen. Sicherheit bedeutet, dass man verstärkt versucht, junge Demokratien und wirtschaftliche Gerechtigkeit zu unterstützen. Wir haben uns wie die Weizsäcker-Kommission vier Fragen gestellt: Was sind die sicherheitspolitischen Rahmenbedingungen? Welche Verpflichtungen ist Deutschland in der NATO und in der Europäischen Union eingegangen? Was haben die Streitkräfte zu leisten? Wie müssen sie dann ausgestattet sein? Und wir stellen eine fünfte Frage: Wie können die vorhandenen Mittel zum Aufbau einer nichtmilitärischen Krisenprävention umgelagert werden? Daraus ergibt sich die Zahl von 200.000 Freiwilligen und - weil die Bundeswehr nur als ultima ratio eingesetzt werden darf - die Stärkung der Prävention.
Was glauben Sie denn, warum Scharping 300.000 Mann will? Er hat sich doch wahrscheinlich dieselben Fragen gestellt wie Sie.
Ich weiß nicht, ob er den Sparzwang auch längerfristig akzeptiert, und offensichtlich kommt er in der sicherheitspolitischen Analyse zu anderen Ergebnissen. Eine gewisse politische Blindheit scheint seine Analysefähigkeit zu trüben. Und ähnlich wie Volker Rühe traut er sich an eine wirkliche Reform der Bundeswehr nicht ran. Er wird nicht sparen können, wenn er 200.000 Mann allein für den Fall bereithalten will, der absehbar nicht eintritt, nämlich die Landesverteidigung.
Wenn ich lese, wie Frau Wohlleben von der SPD-Fraktion argumentiert (Freitag, 16. 6. 2000, S. 11), wundert es mich gar nicht so sehr, dass Scharping eine größere Armee will: die NATO-Ostgrenze ist gefährlich, die Türkei ebenfalls, im Nahen Osten herrscht Wasserknappheit, es gibt Armutsimmigration und religiösen Fundamentalismus und die ständige Krise Iran-Irak ...
Diese Argumentation ist politisch höchst gefährlich, weil hier eben Sicherheit für Deutschland und Europa wieder militärisch definiert wird. Das ist doch die Sprache des Kalten Krieges! Man kann die Beispiele durchgehen: im Irak brauchen wir bessere Prüfungskontrollen und Abrüstungsmaßnahmen, in der Türkei mehr aktive Hilfe gegen Menschenrechtsverletzungen ... Man wird all diese Konflikte, die die Kollegin Wohlleben aufzählt, weder mit 200.000 noch mit 500.000 Soldaten lösen, sondern nur mit Konfliktprävention und -moderation. Deren Aufbau wird durch die Reduktion auf militärische Sicherheit verhindert.
Wie fühlt man sich denn in der Koalition mit einer Partei, die gar nicht anders argumentiert als die CDU? Wie gehen Sie mit dem Militarismus Ihres Partners um? Was richtet Ihre Gegenstrategie, einfach die Zahlen, die Mannstärke zu reduzieren - gut, Sie wollen auch die Prävention voranbringen -, gegen so ein Denken aus?
Das Gefährliche am Verlauf der Diskussion ist in der Tat, dass nur noch über Zahlen diskutiert wird. Wir als souveräne Partei haben aber sehr deutlich gemacht, dass wir den Kabinettsbeschluss unter Federführung der Sozialdemokraten für fragwürdig halten. Wir bleiben gelassen, denn die Entwicklung sowohl bei den Bündnispartnern als auch bei uns wird zeigen, dass der Interventionismus und überhaupt die alten Denkmuster keine gesellschaftliche Mehrheit haben. Außerdem ist es uns in der Tat gelungen, erste Schritte in Richtung Prävention zu institutionalisieren.
Was haben Sie erreicht?
Es ist ganz wichtig, dass - nicht vom Verteidigungsministerium, sondern vom Entwicklungshilfeministerium und vom Auswärtigen Amt - Ausbildungskapazitäten für Friedensdienste und OSZE-Monitoren und Kapazitäten zur Prävention vor Ort in Konfliktregionen geschaffen oder verstärkt worden sind. Die OSZE prüft bereits, wie sie das auf ihre Mitgliedsstaaten übertragen und verschiedene dezentrale Ausbildungsstätten dafür aufbauen kann. Ich denke, ohne die grüne Regierungsbeteiligung wäre der Punkt Prävention als Bestandteil der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik möglicherweise nicht festgeschrieben worden. Es zeigt sich, dass es an uns liegt, ob in Konsequenz aus dem Kosovo-Krieg diese Fragen thematisiert werden oder nicht.
Aber die 200.000 Berufs- und Zeitsoldaten, die Sie befürworten, sehen Sie nicht alle für Prävention vor.
Das sind zwei paar Schuhe. Zum einen gibt es die Freiwilligen-Ausbildung für Reservisten, aber auch für Leute aus NGOs, die nichtmilitärische Einsätze mit Mandat im Ausland vollziehen wollen. Zum Zweiten lehne ich die Strategie ab, nach der die Bundeswehr jetzt alles können muss und in Zukunft das Kindermädchen für alle Krisen und Kriseneinsätze sein soll. Das würde die Prävention in den Hintergrund drängen und Organisationen wie die Vereinten Nationen und die OSZE marginalisieren. Wir haben noch nicht erreicht, dass auch darüber breit diskutiert wird, das gehört aber zur Debatte über die Bundeswehrreform.
Ihre Präventionspolitik ist gegen Gewaltanwendung und -drohung gerichtet. Diese Drohung geht aber heute zum Teil von den westlichen Streitkräften aus, in die Sie selber sich einbinden. Wenn im Westen von Krisensicherung geredet wird, kann man das denn davon trennen, dass Washington einen Raketenschirm plant ...
Das ist zu viel auf einmal gefragt!
Die Frage ist eigentlich nur: Sind Sie sich des Kontextes bewusst, in dem Sie Ihre Präventionsforderung stellen?
Ich bin mir des Kontextes bewusst. Aber erstens meine ich, man könnte einmal die wissenschaftlichen Analysen zur Kenntnis nehmen, die zeigen, dass etwa im Kosovo präventives Handeln möglich gewesen wäre. Wenn die europäischen Staaten künftig nicht wieder warten wollen, bis das Kind in den Brunnen gefallen ist, dann brauchen sie keine überdimensionierte Streitmacht, sondern müssen ihre gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entsprechend formulieren. Zweitens geht es um politische Einhegung. Man kann nicht zulassen, dass mit dem Schlagwort »humanitäre Intervention« die Verweigerung politischer Kriterien - welche Institution kommt wann in welcher Situation zum Einsatz - bemäntelt wird. Hier insbesondere liegt ein Defizit. Und drittens, wenn man nun den Bogen zum amerikanischen Raketenschirm schlägt, da kann ich nur sagen: gut, die Amerikaner wollen eine Interventionsarmee, das haben sie oft genug jenseits völkerrechtlicher Grundlagen bewiesen, aber mit dem Raketenschirm gefährden sie den gesamten rüstungskontrollpolitischen Ansatz und können hoffentlich von den europäischen und auch anderen Staaten, Rußland, China, zur Umkehr bewegt werden.
Sie sagen, wenn so ein Fall wie der Kosovo-Konflikt wieder auftritt, dann muss man sich anders verhalten, die Chancen zur Prävention vorher nutzen - aber wer ist dieses »man«, das »muss«: da gehören die Vereinigten Staaten dazu, deren Interventionismus Sie selber hervorheben. Ihre Politik der Prävention steht in einem Spannungsfeld.
Das Spannungsfeld entsteht durch die Zurückhaltung der europäischen Staaten, Prävention in den Vordergrund zu stellen. Wenn man Sicherheit nur militärisch definiert und dann mit der Militärhilfe der Amerikaner rechnet, spielt man wirklich mit dem Feuer und riskiert, dass noch viele weitere Konflikte so enden wie der Kosovo-Konflikt.
Halten Sie das Argument für abwegig, es gehe bei manchen Konflikten nicht nur um Menschenrechte, sondern auch um Gas und Öl? Wie sehen Sie die Lage im Kaspischen Raum: es heißt, bis 2050 seien anderswo die Ölvorräte erschöpft, dann müsse der Westen dort zugreifen, und es gibt jedenfalls jetzt schon ein Militärabkommen der NATO mit Staaten dieses Raums, dessen Inhalt Verschlusssache ist. Das Weizsäcker-Gutachten wiederum, mit dem die Grünen in vielen Punkten übereinstimmen, redet recht unbefangen davon, dass Güter, Rohstoffe, Erdöl kontinuierlich importiert werden müssen und man eine Befähigung zur Seekriegsführung braucht - ist das kein problematischer Zusammenhang?
Absolut problematisch. Ich brauche aber einen Ansatz, mit dem ich die Problematik auch vermitteln kann, und dazu, glaube ich, ist das Schlagwort »Rohstoffinteressen« ungeeignet, obwohl es bedauerlicherweise nicht falsch ist. Wir Grünen versuchen statt dessen darüber zu diskutieren, dass Intervention nicht automatisch militärische Intervention heißt. Wenn ich aus ökonomischem Interesse Staudammprojekte finanziere und damit ganze Regionen zerstöre oder wenn ich der Türkei den Wasserhahn des Nahen Ostens in die Hand drücke, dann sind das auch Interventionen, die irgendwann zur Eskalation führen können. Dann aber die Mannstärke von Streitkräften damit zu begründen, dass man ökonomische Interessen notfalls auch militärisch sichern müsse, weitweit oder wo auch immer - das kann nicht sein!
Weil Sie das ablehnen, legen Sie Kriterien für Militäreinsätze fest. Ihr Parteivorstand hat darüber diskutiert und zum Beispiel vorgeschlagen, der Bundestag dürfe Einsätze nur mit Zweidrittelmehrheit beschließen. Und dann berät Ihre Bundestagsfraktion und begnügt sich mit der einfachen Mehrheit ...
Die Fraktion hat darüber nicht diskutiert. Die Zeit war knapp, die Kabinettsentscheidung stand unmittelbar bevor. Mit dem Bundesvorstandsbeschluss, der übrigens vom Bundesparteitag bestätigt worden ist, wird die Fraktion noch umzugehen haben. Diese Debatte ist auch noch aus einem anderen Grund notwendig: weil in der Grünen Partei und in der ganzen Gesellschaft Bedenken entstanden sind, unter Rot-Grün finde eine Militarisierung der Außenpolitik statt. Warum wurde der Einsatz in Ost-Timor vor aller parlamentarischen Beratung entschieden? Diese Bedenken muss man ernstnehmen. Ich weise den Vorwurf, dass die Grünen eine Interventionsarmee wollen, zurück. Ich sehe aber wohl, dass wir mit unserem Konzept eine Interventionsfähigkeit herstellen, die politisch eingehegt werden muss. Da gibt es ein Defizit, das ohne sehr gründliche Diskussion jedes Einsatzes nicht beseitigt werden kann. Wer nur die einfache knappe Regierungsmehrheit erreichen muss, kann sich Gründlichkeit und Diskussion schenken.
Sie sagen, die Zeit war knapp ...
Ich sage, die Fraktion muss entsprechend der Aufforderung des Parteitags einen Vorstoß beim Koalitionspartner unternehmen, und wenn sie das nicht tut, muss sie begründen, warum nicht.
Ja, aber was waren denn die Motive, aufgrund derer die Fraktion erst einmal, in der Situation der Zeitknappheit ...
Ich will das gar nicht an der Zeitknappheit festmachen. Es war der Tag vor der Kabinettssitzung. Die SPD hat ihr Konzept, wir haben unser Konzept beschlossen. Wir haben viel diskutiert, insbesondere die Konsequenzen des Kosovo-Krieges: wie können wir die Prävention auch ohne aktive Unterstützung des Koalitionspartners weiter stärken? Das hat erst einmal die Debatte bestimmt. Und danach hat der Parteitag sich auf das Kriterium der Zweidrittelmehrheit bezogen und uns aufgefordert, dieses in der Koalition zu besprechen. Ich gehe davon aus, dass das stattfindet.
Fachleute reden davon, dass wir uns mitten in einer »militärischen Revolution« befinden, einem Umbau der Waffensysteme. Das ist auch ein Zwang, unter dem wir stehen, sogar wenn der Zwangsdienst abgeschafft werden sollte. Hat man da nicht das Gefühl, eine Marionette zu sein, die mitten drin hängt? Kann die Marionette mehr tun, als einer Entwicklung, die auf immer mehr Vernichtungspotential hinausläuft, vielleicht noch ein paar politische Lichter aufzusetzen?
Das ist nicht ganz falsch beschrieben. Während der Luftangriffe gegen Ex-Jugoslawien ...
Da konnte man das beobachten, ja.
... wurde deutlich, dass eine Nation und erst recht eine Partei in einer Koalition (lacht) sehr wenig zu sagen hat und kaum Einfluss nehmen kann. Das heißt aber eben für mich, die Verstärkung der europäischen Sicherheits- und Außenpolitik kann nicht zum Ziel haben, dass wir die militärischen Fähigkeiten der Amerikaner nachahmen. Den militärisch-industriellen Komplex gibt es wirklich, und er funktioniert, und der Ausstieg aus ihm wird schwer sein. Umso wichtiger ist Prävention, das Zauberwort (lacht), das wir immer benutzen. Das ist eben die Aufgabe der Grünen: für eine präventive Außen- und Sicherheitspolitik zu kämpfen, in der das Militärische nur ein Minimum ist.
Können Sie diejenigen verstehen, die angesichts all der Gefahren auch im eigenen westlichen Lager zu einem anderen Schluss kommen als Sie: keine Umlenkung von innen heraus auf Prävention und auch kein Rückgang von 500.000 auf 200.000 Mann, sondern einfach der Kampf gegen Militär überhaupt?
Ich kann das natürlich verstehen. Nur werde ich die Gefahren mit so einer Position nicht eindämmen. Wenn ich bestimmte Entwicklungen verhindern will, muss ich konkret Politik gestalten und Konzepte vorlegen.
Das Gespräch führte Michael Jäger
Die bisherigen Beiträge der Debatte HELM AB!:
Dieter S. Lutz: Stillgestanden!
Verena Wohlleben: Notwenige Lebensversicherung
Ulrich Cremer: Anti-emanzipatorisches Gewicht
Otfried Nassauer: Krieg mit einfacher Mehrheit
Michael Jäger: Die Nato in der Nato
Ekkehart Krippendorf: Der gutachterlich verkleidete Krieg
Tobias Pflüger: »Wehrpflicht weg!« allein bringt wenig
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