Zeigt nicht mit dem Finger auf Andere!

Paris Es gibt in Europa eine Ignoranz gegenüber Terror und Gewalt in anderen Teilen der Welt. Aber auch für Muslime ist es Zeit für unangenehme Selbstkritik, meint unser Autor
Ausgabe 47/2015
Es ist nicht die Zeit für Ausreden, es ist Zeit für Zusammenhalt
Es ist nicht die Zeit für Ausreden, es ist Zeit für Zusammenhalt

Foto: Mahmoud Zayyat/AFP/Getty Images

Die Anschläge in Paris haben die meisten Menschen in Europa in einen Schockzustand versetzt. Einige aber, darunter viele Muslime, stellen sich die Frage, warum kollektive Anteilnahme mit den Opfern in Paris herrscht, die täglichen Opfer des IS in der arabischen Welt nur marginal wahrgenommen werden. Insbesondere in den sozialen Medien ist die Entrüßstung groß. So empört man sich, dass Facebook zwar eine Funktion eingerichtet, das Profilbild mit der Tricolore zu versehen, das gleiche aber nach dem ebenfalls blutigen Anschläge des IS in Beirut unterlassen hat.

Ja, es gibt eine Ignoranz in Europa gegenüber Terror und Gewalt in anderen Teilen der Welt. Es mangelt an Anteilnahme und Solidarität. Oftmals fehlt der Blick und die Empathie für die zivilen Opfer des „Kriegs gegen den Terror“ in Afghanistan, Irak und Syrien oder dem Wüten des IS in Syrien oder dem Irak. Und es gibt eine Doppelmoral in der Außenpolitik westlicher Länder.

Aber das kann doch nicht als Ausrede gelten, um selber, als in Europa lebende Muslime, keine Empathie zu zeigen? Gewiss leiden in erster Linie die Muslime unter der Terrorherrschaft des IS. Abertausende sind ihren Verbrechen zum Opfer gefallen. Muslime, die hier in Europa leben, müssen aber auch fähig sein, Empathie für die Menschen des Landes zu entwickeln, in dem sie leben. Es sind ihre Mitbürger. Das Aufrechnen von Opfern, das sich Drücken vor Solidarität, ist Gift für das Zusammenleben hier, baut die bestehenden Ressentiments nicht ab, sondern schürt sie.

Und übrigens: Diejenigen, die am lautesten schreien „Paris ist schlimm, aber warum schaut ihr nicht nach Beirut, Aleppo oder Pakistan?“, sind oft die, die selber über Beirut, Aleppo und Pakistan geschwiegen haben. Sie erinnern sich jetzt daran, weil sie ihre Augen vor der schrecklichen Realität verschließen wollen. Wenn es um den Konflikt zwischen Israel und Palästina geht, sind die Muslime in Europa sofort Feuer und Flamme. Was die Lage der Muslime in Afrika, die Lage der muslimischen Uighuren in China oder der Krimtataren unter russischer Kontrolle angeht, herrscht dagegen Ignoranz.

Nein, es ist nicht die Zeit für Ausreden, es ist Zeit, den Zusammenhalt aller zivilisierten Menschen zu stärken, Zeit auch für unangenehme Selbstkritik unter uns Muslimen. Denn diejenigen, die banale einseitige Facebook-Solidaritätsaktionen bemängeln, schauen tatenlos zu, wenn salafistische Ideologen junge Muslime in ganz Europa rekrutieren. Die wahhabitisch-salafistische Ideologie ist es, die die islamische Denktradition negiert und die Mehrheit der Muslime als irregleitet und vom Glauben abgefallen bezeichnet – und für vogelfrei erklärt. Dagegen muss man Position beziehen, und zwar mit Argumenten aus einer islamischen Denktradition heraus, auf die der politische Islam in seinen verschiedenen Gestalten seit 200 Jahren allergisch reagiert. Da helfen weder reflexhafte Aufforderungen nach einer „Reform“ noch Ignoranz gegenüber den realen Problemen in der islamischen Welt.

Statt mit dem Finger auf Andere zu zeigen, ist es an der Zeit, kritische Selbstreflexion zu betreiben. Auf die öffentliche und mediale Ignoranz gegnüber den IS-Opfern in der islamischen Welt kann man immer noch hinweisen. Zuerst sollte man aber schauen, was hier schief läuft und was man zum Nutzen aller Menschen besser machen kann.

Eren Güvercin, geb. 1980 in Köln, ist Initiator der alternativen Islamkonferenz und Autor des Buchs Neo-Moslems (Herder Verlag)

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