Lesen wir Gedichte
Volha Hapeyeva, aus dem Belarussischen von Thomas Weiler
poesie
erinnert uns daran
was das heißt
menschsein
sie macht uns offen
und damit stark
das wort
kann niemand uns entziehen
unsere poesie
kann niemand uns nehmen
Poesie als Akt und als Raum der Freiheit feiert das Gedicht der Schriftstellerin und Linguistin Volha Hapeyeva. Es kommt mit wenigen Worten aus, verweigert sich jeglicher Prätention, zielt direkt auf die existenzielle Notwendigkeit der Kunst- und Redefreiheit, auch unter einer von Willkür und Terror geprägten Regierung. Volya Hapeyeva, geboren 1982 in Minsk, die in ihren autobiografischen Aufzeichnungen Camel Travel vom Aufwachsen in einem Land erzählt, in dem zwei Sprachen gesprochen werden, hat ein Plädoyer für die Poesie verfasst, das alle ansprechen will: Fünfmal wird das Reflexivpronomen „uns“ eingesetzt, das entschieden an das Zusammengehörigkeitsgefühl seiner Adressaten appelliert.
Stadtführer für Minsk
Sasha Filipenko, aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Es gibt eine U-Bahn, sie fährt aber nur fünf Tage die Woche. Dasselbe gilt für das mobile Internet. Covid gibt es nicht, aber immer öfter doch. Die Straßen sind voller Mist – wegen der vielen Bullen. Die besten Restaurants sind zu, die Galerien auch. Wenn Sie beim Morgenkaffee gern aktuelle unabhängige Zeitungen lesen – unterstützen Sie ihre Publikation und Verbreitung. Wenn Sie eine Theateraufführung sehen möchten – bringen Sie die Schauspieler selbst mit (die hiesigen wurden entlassen). Wenn Sie Journalist sind – werden Sie nicht ins Land gelassen. Wenn Sie studiert haben – auch nicht. Wenn Sie ein unbegabter Propagandist oder ein Streikbrecher sind – werden Sie mit offenen Armen empfangen, und weil wir ein in Staatengemeinschaften integrierter Staat sind, brauchen Sie auch kein Visum. Wenn Sie nicht wissen, welche Kleidung Sie einpacken sollen – entscheiden Sie sich für etwas Sportliches, und denken Sie an die Daunenjacke – kalt ist es bei uns nicht, aber auf den Pritschen schläft man damit weicher. Wenn Sie gern Fahrrad fahren – es gibt viele Radwege, aber Sie gelten dann als Faschist. Warum? Diese sinnlose Frage gibt es in Belarus längst nicht mehr. Wenn Sie einer Person mit einer Kamera oder einem leeren Blick begegnen – das sind Silowiki in Zivil. Die sind harmlos, sie fressen einem aus der Hand. Die mit der Zunge im Arsch sind die Fußballer der Nationalmannschaft. Oder, wenn sie etwas größer sind, berühmte Hockeyspieler. Mit rot-grünen Fahnen darf man spazieren gehen, mit weiß-rot-weißen nicht. Verwechseln Sie das nicht! In Jogginghosen und mit Gewehr herumlaufen darf man, in Kleidern und mit Blumen nicht. Graffiti malen ist verboten, Gedenkstätten zerstören nicht. Drogen gibt es in der Stadt keine – die hat alle die OMON gefressen. Wenn Sie ein Mann in aggressiver Stimmung anpöbelt – leisten Sie keinen Widerstand, das ist ein Polizist. Wenn neben Ihnen ein Kleinbus anhält – rennen Sie, aber nicht im Trab, sondern so schnell Sie können. Jedenfalls, willkommen in Minsk, haben Sie keine Angst und gehen Sie viel spazieren – vielleicht werden Sie gar nicht festgenommen – die Gefängnisse sind alle voll.
„Warum? Diese sinnlose Frage gibt es in Belarus längst nicht mehr.“ Das Vademecum für Minsk, das der 1984 dort geborene Sasha Filipenko, scharfer Kritiker der Regierung Alexander Lukaschenkos, dem Reisenden an die Hand gibt, macht keine Lust auf einen Aufenthalt in der weißrussischen Hauptstadt. Dort herrschen Mangel, Gewalt und Überwachung durch die OMON, eine für ihre Brutalität berüchtigte Spezialeinheit der Miliz und Teil von Lukaschenkos Machtapparat. Die Zustände, so der Text, dessen nüchterner Satzbau in strengem Kontrast zum beißenden Ton der Aussagen steht, sind bedrohlich, unhaltbar. Nur wer sich regierungskonform verhält, hat überhaupt eine Chance, unbehelligt zu bleiben.
Wunder
Dmitri Strozew, aus dem Russischen von Andreas Weihe
sie sind aus dem haus gegangen
haben sich in die straßen ergossen
wie wasser
auf das wasser hat man eingeprügelt
mit wasser hat man sie begossen
das wasser ist gestiegen
ungebrochen
nicht sauber gewaschen
durch das nadelöhr gegossen
sind sie heimgekehrt
die
gestern wasser waren
sind heute wein
Der zeitweilig inhaftierte Minsker Dichter Dmitri Strozew (geb. 1963) legt dem Gedicht eine Erzählung aus dem Johannesevangelium zugrunde: Bei der Hochzeit zu Kana zeigt Jesus sich als Messias, als er Wasser in Wein verwandelt. Auch das „Nadelöhr“ nimmt Bezug auf die Bibel, auf Matthäus, Markus und Lukas: „Eher geht ein Kamel durch ein Nadelöhr, als dass ein Reicher in das Reich Gottes gelangt.“ Der Vergleich der Protestierenden mit Wasser schreibt die Kraft zur Verwandlung den Menschen zu, die „durchs Nadelöhr gegossen heimgekehrt“ sind. Zugleich sind die Weissagungen aus dem religiösen Kontext gelöst, da keine höhere Macht angesprochen ist. Das Gedicht fragt nach Gottes An- oder Abwesenheit.
Hanna Komar, aus vom Belarussischen von Ruben Biewal
die Nacht über automatische Wahlwiederholung
Wahlzeichen sind wie Schlagstöcke
Gummikugeln
alle auf einen
130, 131 – langer Ton
wie bis zum Morgen mit dem Gesicht auf den Beton
wie eine Bewusstlosigkeit, aus ihr herausgerissen
durch einen neuen Schlag
wie drei Tage ohne Essen
es gibt keine Antwort auf alle unsere
weißen Blumen
roten Herzen
der menschliche Körper und Geist
halten Traumata aus
unvereinbar mit dem Glauben an etwas Besseres
wechseln wir die Farben von
„Angst“, „Besorgnis“, „Beschwerde“ nach
„Widerstand“, „Warten“, „Hoffnung“
Wenn all das enden wird
helfe ich dir umzufärben
die nackten Wände
weiß
rot
weiß
Ein bedrohliches Szenario entfaltet die 1989 in Baranawitschy geborene Hanna Komar, die im Rahmen der Proteste 2020 ebenfalls zeitweilig inhaftiert war: Ein Anruf läuft ins Leere, das Geräusch der Wahlwiederholung wird zu dem eines Schlagstocks. Das Gedicht hält aber dagegen, mithilfe der Symbolik der Farben. Die weiß-rot-weiße Fahne, die Gegner des Lukaschenko-Regimes bei den landesweiten Protesten mit sich trugen, erscheint als Zeichen der Hoffnung. Das Gedicht lädt die Farben durch den Kontext zugleich so auf, dass das „Umfärben“ der nackten Wände als Wunsch gelesen werden kann, Spuren von Blut, das geflossen ist, zu beseitigen – kein Akt des Vergessens, sondern einer der Solidarität.
Ljubow, aus dem Russischen von Marina Unger
Dort, wo es weder nach Myrrhe noch nach Weihrauch duftet,
Dort, wo Türen vor Gewehren nicht schützen,
Dort, wo die Dämmerung den Himmel in Flammen setzt,
Dort standen wir, als unsere Freunde von uns gingen.
... alles wiederholt sich in diesem Teufelskreis:
Kampf und Verlust gehen Hand in Hand.
Und spürbar tief und glühend heiß
Dringt der Splitter des Hasses unter die Haut.
... eines Tages, vielleicht, verstehe ich sie auch,
Diese Zeit voller Blut und voller Rauch ...
Unter den von Alina Lisitzkaja herausgegebenen Stimmen der Hoffnung. Aufzeichnungen, Gedichte, Texte der Belarussischen Freiheitsbewegung (Verlag Das kulturelle Gedächtnis 2021, 224 Seiten, 22 €) sind auch Menschen, zu denen das biografische Verzeichnis sagt: „Keine Information vorhanden“ – drei Worte, hinter denen ein Leben steckt. Ljubows Gedicht ist ein literarisches Komplement zur Unzugänglichkeit dieses Lebens: Ein Ort wird zum unwirtlichen, an dem „die Dämmerung den Himmel in Flammen setzt“. Man denkt an Mars, den Kriegsgott – und ist inmitten einer Gesellschaft, in der Unrecht, Kampf und Hass sich ausgebreitet haben. Der tiefe Hass, der vielleicht Rache zeitigt, ist so schwer zu ertragen, dass dem Ich des Gedichts lediglich die unbestimmte Hoffnung auf die Zukunft bleibt, darauf, „eines Tages zu verstehen“.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.