Weihnachtsfeiern: Von Oliver Cromwell über Eifersucht bis Banana-Eating
A-Z Auf Firmenweihnachtsfeiern geraten Verhaltensetiketten außer Kraft, werden Büromaschinen umgenutzt, Schrottgeschenke verteilt: Ohne Alkohol kann es sehr einsam werden. Sollten wir statt Exzess also lieber Robert Gernhardt lesen? Das Lexikon
Aufbruch Erinnerungen trügen, zumal bei Ereignissen, die sich wiederholen. Aber das erste betriebliche Weihnachtsessen des „neuen“ Freitag 2008 hat sich schon deshalb im Gedächtnis gehalten, weil wir später nie wieder derart nobel bewirtet worden sind. Bis dahin hatte sich die alte „Freitag“-Crew unspektakulär in einer Kiez-Kneipe getroffen, doch mit dem „Bamberger Reiter“ im Bayerischen Viertel sollte offenbar das Zeichen des Aufbruchs gesetzt werden. Was es ja auch war, ein neu gestaltetes Blatt, der Sprung in die digitale Zeitungswelt. Vier Monate hatten wir uns in der neuen Formation am Hegelplatz beschnuppert, beäugt und ungewohnte Hierarchien vermessen, neugierig oder misstrauisch, denn wir wussten nicht wirklich, was der
misstrauisch, denn wir wussten nicht wirklich, was der Verleger im Sinn hatte. Die Atmosphäre war ein bisschen angespannt und überdreht, wie immer, wenn Rollen neu verteilt werden. Der „Reiter“ hat nach uns seine Tore geschlossen, die des Freitag stehen weiter offen. Ulrike BaureithelBBanana-Eating Ein philippinisches Weihnachtsspiel brachte den Chefarzt am Tübinger Universitätsklinikum fast um den Job. Beim sogenannten Banana-Eating – es gibt auch Varianten mit Äpfeln – muss der Kandidat eine Bananenschale nur mit dem Mund öffnen und verspeisen. Pikantes Detail: Die phallische Frucht klemmt zwischen den Schenkeln eines Menschen. Im Fall dieser Weihnachtsfeier im Jahr 2020 waren es die Schenkel des Chefarztes, vor dem eine junge asiatische Frau kniete. Ein Foto der Szene gelangte in die sozialen Medien und beschäftigte dann den Personalrat. Dieser vermutete dahinter eine sexistisch-herabwürdigende Handlung. Alle Beteiligten betonten jedoch, dass es ein verbreitetes Partyspiel sei, das man gespielt habe, weil fast die gesamte Belegschaft von den Philippinen stammt. Was harmlos ist, liegt offenbar im Auge des Betrachters. Tobias PrüwerCCountdown Die Band XTC, 1976 gegründet in Swindon in Südwestengland und erst 2006 aufgelöst, ist bis heute ein Geheimtipp. Eine Band für Kenner:innen, geliebt von Kritikern, doch ganz weit entfernt vom großen Publikum. Das mag daran liegen, dass der Art-Pop-Rock-New-Wave von Andy Partridge & Co immer etwas künstlerisch überambitioniert daherkam – auch wenn sie zumindest einen echten Hit hatten: Making Plans for Nigel.Es gibt aber jede Menge Gründe, XTC neu zu entdecken. Etwa einen der besten Songs über eine Weihnachtsparty ever, erschienen auf dem 1990er-Album Rag & Bone Buffet. Unter dem Pseudonym The Three Wise Men veröffentlicht, ist Countdown to Christmas Party Time ein weihnachtlicher Funk-Burner – irgendwo zwischen Kid Creole & the Coconuts, Scritti Politti und Michael Jackson, aber auch „cheesier than a very cheesy christmas cheeseboard“, wie ein Kommentator auf Youtube ganz richtig bemerkt. We’re so happy / We want you to be happy too / No more fighting, no more fuss / Ah, it’s Christmas! / Countdown to Christmas party time!. Muss unbedingt auf jede Weihnachtsfeier-Playlist! Marc PeschkeEEifersucht Manche rasen wegen ihr, das ist ungesund. Aber selbst Normalneurotiker beschleicht zwischendurch der Zweifel (➝ Fontane), ob das Treuegelübde, wenn es überhaupt offiziell abgegeben und nicht einfach nur für selbstverständlich erachtet wurde, noch gilt. War man töricht? Mittenrein dann so eine postpandemische Weihnachtsfeier ... Was tun?!Praktisch für stille Eifersüchtler:innen, die sich ungern die Blöße geben, sind die modernen Sitten-Kodexe. Sie haben die amourösen Gefahren neutralisiert, mindestens gehörig eingedämmt. Mein Tipp trotzdem: besser ansprechen, denn Eifersucht ist in dosierter Form belebend, und existiert sie nicht, kann ihre Abwesenheit genauso ein Ausdruck von Liebe sein. Ein Freund erzählte einmal, man habe ihm vor vielen Jahren im Vertrauen gesagt, seine Frau „hätte was mit diesem X“. Er sei dem nie nachgegangen. Er wüsste es bis heute nicht. Seit ewig sind sie glücklich verheiratet.Katharina SchmitzExzess Weihnachtsfeiern sind ein fragiles diplomatisches Parkett. Als Unternehmensberater empfehle ich Ihnen: Wenn überhaupt, erscheinen Sie früh und gehen Sie früh. Damit sind Sie auf der sicheren Seite. Manchmal scheint sich das nett notwendige Benehmen im Geschäftsbetrieb wie ein Pendel auf die dunkle Seite der Möglichkeiten zu schwingen. Am nächsten Morgen rastet es wieder auf der Seite der Unauffälligkeit ein. Doch bis dahin muss man es erst mal ohne nachhaltigen Reputationsschaden schaffen. Denn wenn der Seniorpartner Krawatte-schwingend auf der Beatbox mit der Praktikantin abhottet, wissen Sie: Der Abend kippt und Sie gleich mit. Jan C. BehmannFFontane Theodor Fontane hat das Feiern zu Weihnachten in seinem Werk gern gestreift. Im allerersten Roman Vor dem Sturm ebenso wie in seinem letzten Der Stechlin, besonders eindrücklich in Effi Briest. Wie Weihnachten begangen wird, soll der Familie bekanntlich ein Wohlgefallen sein. Ist es aber fast nie. Auch für Effi nicht und ihren Ehemann, den wesentlich älteren Geert von Innstetten, die es ins Provinzstädtchen Kessin verschlagen hat. Sie plagt das schlechte Gewissen wegen der Treffen mit Major Crampas. Statt der Weihnachtsstimmung mischt sich Unruhe in ihr Herz. Seit es Crampas gibt, weiß sie, wie fremd ihr Geert immer geblieben ist. Auch das weihnachtliche Blendwerk, die Hingabe ans gebotene Ritual reichen nicht aus, den Verfall einer Ehe für diesen Moment vergessen zu lassen (➝ Eifersucht). Was dem Glück entglitt, weil es nie eines war, lässt sich durch Weihnachtspassion und Lichterglanz nicht retten. Lutz HerdenOOberschicht Herr Lemm ist ein reicher Mann. So reich, dass er sich erlauben kann, einen Weihnachtsmann für seine Kinder zu engagieren. Und er scheint Glück zu haben. Gleich drei Figuren tauchen am 24. Dezember in seiner Dahlemer Villa auf – der Weihnachtsmann hat Knecht Ruprecht und den Erzengel Gabriel mitgebracht. Doch die Bescherung gerät zur kapitalismuskritischen Unterweisung. Streng antiautoritär natürlich. In den Kostümen stecken aufmüpfige Studenten. Das ist sehr lustig – allerdings nicht für Herrn Lemm. Robert Gernhardts Kurzgeschichte Die Falle erschien erstmals 1966 im Dezemberheft der Satirezeitschrift Pardon. Und ist seitdem ein Dauerbrenner ideologiekritischer Festtagsschelte, gerne bei Weihnachtsfeiern vorgetragen. Selten wurden die bürgerliche Gesellschaft und ihre Rituale amüsanter attackiert. Auch wenn kaum jemand mehr versteht, was der Weihnachtsmann mit „Expropriation der Expropriateure“ meint. Joachim FeldmannPPankower Frauen Ein gemeinsames Weihnachtsessen gehört zu den Bräuchen des Pankower Frauenbeirates, der seit mehr als 20 Jahren als überparteiliches Gremium die Belange von Frauen vertritt und das Bezirksamt in Berlin berät. Auch in diesem Jahr wurde, bevor wir zum Feiern loszogen, Bilanz gezogen. Themen waren etwa „Frauen und Arbeitsmarkt“, „Vereinbarkeit von Beruf und Familie“ oder – wie in der AG Spurensuche – die Würdigung bekannter Frauen, die im Bezirk lebten. Nach zwei Jahren Corona-Sperre (➝ Verbote) war es besonders schön, sich mal wieder – außerhalb der Tagungsräume – zu begegnen und noch näher kennenzulernen, bei normalen Sitzungen ist die Zeit oft knapp und die Tagesordnung lang. Magda GeislerSSchrottwichteln Wo das Schrottwichteln als böse Abart des Wichtelns herkommt, ist nicht herauszufinden. Böse aufgrund der Pervertierung des Schenkens, hat mein seit zwanzig Jahren existierender Stammtisch es verwandelt in etwas Liebevolles. Spätestens ab Februar machen wir uns Gedanken, was wir bei der Weihnachtsfeier schrottwichteln werden. Mitglieder tauchen mit dem Satz auf: „Mein Schrottwichtel gewinnt den nächsten Scheußlichkeitspreis.“ Wir hatten schon LED-betriebene Leuchteisbären, Harlekins im lila Polyesterdress, schnurrbartverzierte Kaffeetassen und lachten Tränen. Bis heute ärgere ich mich, einen an der Straßenecke lauernden Keramikadventskranz mit ananasscheibenartigen Kerzenhaltern nicht in die Runde geschickt zu haben. Beate Tröger TTrocken Es gibt Dinge, die man nüchtern einfach nur schwer ertragen kann. Da können Asketen sagen, was sie wollen, aber verbringen Sie mal eine Weihnachtsfeier, ohne sich hemmungslos einen reinzukippen (➝ Exzess). Das wird irgendwann himmelschreiend einsam, wenn wirklich alle sich die cerebrale Gardine zulöten, als wenn es kein Morgen gäbe. Man guckt dann an die Decke und lobt innerlich die Wandtapete, während die anderen in den Suff absinken. Die Polonaise tobt und Sie avancieren zum Volksschauspieler. Doch was soll man machen, wenn die Stimmung kocht und man selber innerlich friert? Ab einem gewissen Punkt ist die Simulation des erwarteten Zustands die beste Form der Authentizität. JCBVVerbote Noch im frühchristlichen Rom feierte das Volk am 25. Dezember die „neue Sonne“, den Sonnengott. Vor dem Kirchenportal wandten sie sich am Weihnachtsmorgen der aufgehenden Sonne zu und grüßten sie. Zum Sonnenuntergang war dann Party angesagt. Die neuen religiösen Großkopfeten erklärten den Tag kurzerhand zum Datum der Geburt Christi und die Nacht davor zur Heiligen Nacht. Der heidnischen Feierlaune tat das keinen Abbruch. Dem Volk war der neue so recht wie der alte Anlass.Im 17. Jahrhundert waren die strengen Calvinisten um Oliver Cromwell äußerst empört: Zum Christfest beim Contredance herumwirbeln, „Herbstkinder“ zeugen, die ersten Schinken aus dem Rauch nehmen, ein Fass Christmas Ale anstechen (➝ Trocken). Zwölf Tage lang kein „ora, labora et studia“! Als Boris Johnson im Dezember 2020 ruckartig seine Covid-Strategie änderte und Weihnachtsfeiern in London strikt verbot, erinnerte das an das englische Weihnachtsverbot 1644. Michael SuckowZZweckentfremdet „Mit nacktem Hintern auf der Kopiermaschine“, titelte ein österreichisches Boulevardblatt im Dezember 2016. Doch wer jetzt Enthüllungen über das Treiben einschlägig bekannter Politikgrößen erwartete, wurde enttäuscht. Es ging um die Filmkomödie Office Christmas Party. Wer über bizarre Bräuche bei Bürofeiern recherchiert, stößt auf Schwierigkeiten. Was ist Realität und was urbaner Mythos? Lichten wirklich volltrunkene Angestellte ihren Po auf dem Fotokopierer ab, bevor sie im Materiallager übereinander herfallen? Um sich am nächsten Morgen schrecklich dafür zu schämen (➝ Banana-Eating)? Ehrliche Auskünfte Betroffener zu erhalten, dürfte schwierig sein. Gesichert ist zumindest, dass die Firma Canon schon 2005 die Glasplatten ihrer Kopiermaschinen von 4 auf 5 Millimeter verstärkte, um Schäden bei Zweckentfremdung zu vermeiden. JF
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.