Zeit zu lesen, Zeit zu schreiben

Nicaragua Zum 25. Jahrestag der sandinistischen Alphabetisierungskampagne war die "Bert-Brecht-Brigade" wieder in Boca de Sabalos

Der Blühende Baum treibt Blüten
in Tamoanchan. Tropische Blüten
in Tamoanchan (wie Glocken)
Die Vögel saugen Honig
im Blühenden Baum
Und ich sage: "Hier leben sie ohne Zweifel."
Und ich höre ihren blühenden Gesang.

Aus Ernesto Cardenal Netzahualcóyotl


Es ist wie eine Zeitreise in die Vergangenheit. Insgesamt sind wir 13, die meisten um die 40 - Pädagogen, Sozialarbeiter, eine Linguistin, eine Soziologin, Computerspezialisten, ein Tischler und ein Fahrradhändler, eine Psychologin. Wir kommen aus München, Trostberg, Freiburg. Was alle verbindet: In den Jahren 1984 bis 1989 haben wir im wahrhaft elenden Süden Nicaraguas, in der Region Rio San Juan, in wechselnden Zusammensetzungen als "Bert-Brecht-Brigade" Schulen, Kindergärten und Lehrerausbildungsstätten gebaut, jeweils in den Semesterferien, sechs Sommer lang.

Nichts dergleichen hatte es bis dahin dort gegeben. Die Analphabetenrate in jener Gegend lag im Juli 1979, als das Land durch den Aufstand der Sandinisten von der Somoza-Diktatur befreit wurde, bei 96 Prozent. Weshalb sich die - später mehrfach von der UNESCO ausgezeichnete - sandinistische Cruzada Nacional de Alfabetización vorrangig eben dieser so schwer vernachlässigten Region zugewandt hatte und Aufbauhelfer aus Europa willkommen waren. So auch die "Bert-Brecht-Brigade". Ich selbst habe damals auch als Journalistin die Region Rio San Juan bereist - und soll diesmal wieder Chronistin sein.

Die Brigadistas von einst zieht es besonders zu ihrer Grundschule in Boca de Sabalos, dem kleinen Ort rechts und links der Mündung des Flüsschens Sabalos in den Rio San Juan. Vor 20 Jahren wurde in Deutschland dafür gesammelt, diese Schule überhaupt bauen zu können, was dann unter extrem schwierigen Bedingungen geschah. Ungewöhnlich starke Regenfälle bei zermürbender Hitze, die gewagten Flussüberquerungen im ungewohnten Einbaum, der knietiefe Schlamm und Morast auf unbefestigten Wegen, die bescheidene Unterkunft bei den Familien der Einheimischen, morgens Reis mit Bohnen, abends Reis mit Bohnen - das alles hatte letztlich Kampf bedeutet. Kampf gegen die äußeren Widrigkeiten, auch gegen sich selbst, gegen Überforderung, Frustration, gegen den ewigen Zweifel, ob das überhaupt einen Sinn hatte.

Nach sechs Wochen besaß der Flecken Boca de Sabalos seine Schule, ein Holzhaus auf Stelzen mit vier Klassenräumen und einer Veranda. Das Einweihungsfest dauerte drei Tage.

Wo liegt Europa?

Wir haben erfahren, "unsere" Schule in Boca de Sabalos gibt es nicht mehr. Vor sechs Jahren musste eine dänische Hilfsorganisation das vom Zusammenbruch bedrohte Gebäude durch ein größeres, stabileres ersetzen. Aber immerhin: 15 Jahre lang hat sie ihren Dienst getan.

Wir haben im Bürgermeisteramt des Ortes unseren Besuch angekündigt. Man erwarte uns, kam als Antwort zurück. Nur was heißt das schon? Ob es jemanden gibt, der sich an uns erinnert, uns womöglich wiedererkennt? Damals waren wir jung, befanden uns (fast) alle auf dem ersten oder zweiten Bildungsweg. 20 Jahre sind eine lange Zeit.

Die 14-stündige Nachtfahrt über den Nicaragua-See in einem Seelenverkäufer wie zu Mark Twains Zeiten (der im Dezember 1866 eben diese Reise unternommen und wunderbar beschrieben hat), schließlich ab San Carlos die Bootstour auf dem dschungelgesäumten Rio San Juan unter tropischen Sturzbächen - die Route nach Süden sorgt für eine langsame Annäherung. Erinnerungen an damals flattern wie Papierschnitzel vor uns her, tauchen auf und verschwinden wieder. Europa mit all seiner Bedachtsamkeit, seinen Selbstgerechtigkeiten, seinen Vorbehalten und Ansprüchen ist weit.

Schon bei der Ankunft die erste Überraschung. Boca de Sabalos hat inzwischen eine richtige Anlegestelle, eine Zement-Plattform. Und gleich dahinter ist man dabei, einen kleinen Platz zu pflastern, die schmückende Plastik für die Mitte, ein überdimensionaler Fisch, ist bereits aufgestellt. Auch der Weg zur Schule wurde befestigt. Unsere hohen Stiefel, die wir vorsorglich angezogen haben, sind überflüssig. Kein Schlamm mehr, zumindest hier nicht. Aus den einst hingewürfelten Häuschen ist eine richtige Ortschaft geworden.

Die zweite Überraschung: Lehrer und Schüler sind in heller Aufregung und in der Aula versammelt. Man hat uns tatsächlich erwartet. Der Bürgermeister hält eine Rede, der Schulchor singt, kleine Mädchen und Jungen tanzen für uns in langen wehenden Röcken und schmalen, buntglänzenden Hosen, die vierte Klasse hat aus alten Fotos ein Poster entworfen: "Dank an die Brigadisten von damals!"

Eine Lehrerin erzählt, wie gern sie unsere Schule besucht habe und jetzt hier selber unterrichte. Und nicht nur sie: etliche Pädagogen habe Boca de Sabalos ins Land geschickt, die arbeiteten nun überall in Nicaragua.

Als Susan, unsere Nummer eins im Spanischen, ihrerseits eine Rede hält und den Kindern erzählt, wer wir sind, wo wir herkommen, und dass unser Aufenthalt in Nicaragua vor 20 Jahren eine so wichtige Schule für uns war, dass wir es seien, die zu danken hätten, schauen sie uns ungläubig an. Zu weit, zu schwierig, zu fremd. Wo liegt Europa?

In unserem Quartier breiten wir auf langen Tischen unsere Fotos von damals aus. Die Leute kommen in ihren Booten - und jubeln, wenn sie sich selber entdecken. Eine junge Frau, auf einen etwa dreijährigen Jungen zeigend, ruft: das ist mein Mann! Geschwister freuen sich, ein Foto von ihrem inzwischen verstorbenen Vater zu finden. Bislang hatten sie kein einziges! Die Kinder von damals stellen ihre eigenen Kinder vor.

So ähnlich wie in Boca de Sabalos ergeht es uns auch an anderen Orten der Region, in denen die "Bert-Brecht-Brigade" gearbeitet hat. Das immer deutlichere Empfinden: zuviel des Dankes! Schließlich ist man einmal auch um seiner selbst willen ins ferne Nicaragua aufgebrochen. Man wollte angesichts der verbrecherischen Intrigen, mit denen die USA - nachdem sie das barbarische Regime Somozas jahrzehntelang hofiert hatten - die Regierung der Sandinistischen Befreiungsfront (FSLN) zu Fall bringen wollten, nicht nur zusehen. Man wollte etwas tun gegen den Nicaragua aufgezwungenen Krieg. Immer jedoch blieben Zweifel, ob das wirklich einen Sinn haben - ob man den Nicaraguanern wirklich helfen konnte, mit dem, was man tat.

20 Jahre später verbindet sich in Boca de Sabalos der Dank des Bürgermeisters und der Schuldirektorin mit der Bitte um neuerliche Hilfe. Auch wenn in der Gemeinde die eine oder andere Straße gepflastert wird - es geht den meisten schlecht. Die Regierung in Managua hat nichts für sie übrig, die Lehrerinnen sind chronisch unterbezahlt, die Frauen im Kindergarten arbeiten ehrenamtlich, sonst müsste man ihn schließen. Die Zahl der Geburten auf dem Lande steigt, gleichzeitig die Sterberate, weil ärztliche Versorgung viele Orte gar nicht erreicht. Allzu viele Kinder besuchen keine Schule mit der Konsequenz, dass die Analphabetenrate nach 15 Jahren rechter Regierungen fast wieder dort gelandet ist, wo die Sandinisten 1979 anfangen mussten - landesweit bei etwa 50 Prozent, in den städtischen Gebieten weniger, in den ländlichen mehr. In El Castillo, dem Nachbarort von Boca de Sabalos, liegt sie bei 72 Prozent.

Corrido al Brigadista

Auf der Rückfahrt nach Managua passieren wir Niquinohomo, den Geburtsort Augusto Cesar Sandinos, Nicaraguas Nationalheld. Die Sandinisten, nun seit 15 Jahren in der Opposition, haben zu einem Kraftakt ausgeholt. Zum 25. Jahrestag des Beginns ihrer beispiellosen Alphabetisierungskampagne, mit der sie die Analphabetenrate auf zwölf Prozent niederkämpften, haben sie zu einer Manifestation gerufen, um unüberhörbar den Startschuss für eine Neuauflage der Cruzada zu geben.

Mindestens 10.000 Menschen sind dabei, und die "Bert Brecht-Brigade" wird an die Spitze ihres Zuges gebeten. Alles Sträuben hilft nichts, an die Internationalisten von einst soll erinnert werden. Die Himno de la Alfabetización wird angestimmt - Corrido al Brigadista, wir können den Text noch. Das schwarzrote Tuch der FSLN um den Hals gehen wir unter riesigen Transparenten und wissen nicht so recht, wie uns geschieht. Es ist wie vor 20 Jahren. Flashartig explodieren die Erinnerungsbilder. Wie viele Nicaraguaner haben damals bitter dafür kämpfen müssen, etwas lernen zu können, und wie wenig hat man davon in Europa begriffen.

Hauptredner der Kundgebung in Niquinohomo ist Daniel Ortega, er führt noch immer die FSLN und will sich im November 2006 noch einmal um die Präsidentschaft bewerben. Bei seinem Besuch in München Ende der achtziger Jahre hatten wir ihm einen stürmischen Empfang bereitet. Jetzt drehen wir die Augen zum Himmel. Doch die Menschen, die heute eigens nach Niquinohomo gekommen sind, jubeln ihm zu. Ortega spricht vom "Dreigestirn Fidel Castro in Kuba, Hugo Chávez in Venezuela und Daniel Ortega in Nicaragua". Gemeinsam könne man es schaffen, der Unterdrückung durch die USA zu trotzen! Das große Thema aber ist die "Cruzada". Die neue und die alte. 400.000 Nicas, Schüler und Studenten zumeist, hatten sich 1980 - noch ganz erfüllt von der Genugtuung über den Sturz Somozas - aufs Land schicken lassen, um Millionen ihrer Landsleute das Lesen und Schreiben beizubringen.

Im kleinen Museum zur Geschichte der Alphabetisierung am Hauptplatz von Niquinohomo kann man Filme darüber sehen. Sie treiben den Betrachtern Tränen in die Augen. Soviel Begeisterung bei den Lehrern und ihren oft viel älteren Schülern. Ist das wiederholbar? Die Sandinisten, Ortega an der Spitze, sagen ja. Und hier und heute beginnt es! Natürlich nicht mit der Wucht von damals. Dafür fehle das Geld. Dafür soll es ganz gezielt zugehen, heute diese, morgen jene Region.

Rechts und links der Rednertribüne stehen auf langen Tüchern die Namen der 187 jungen Nicaraguaner, die in den achtziger Jahren von den Contras, jener von den USA finanzierten Todesschwadronen, ermordet wurden.

Die ersten Internationalisten für die neue Cruzada de Alfabetización sind bereits im Land - zwölf Studenten aus Barcelona.



Nicaragua 1990 - 2005

1990 - bei den Präsidentschaftswahlen verlieren die Sandinisten mit 41 Prozent gegen die Rechtsallianz UNO mit ihrer Spitzenkandidatin Violeta Chamorro. Als einen ihrer ersten Schritte macht die neue Regierung die Landreform der Sandinisten teilweise rückgängig.

1995 - die Regierung unterzeichnet ein mehrjähriges Abkommen mit IWF und Weltbank. Es zielt auf Entlassungen im öffentlichen Dienst und die Privatisierung von Banken, der nationalen Telefongesellschaft, von Wasser- und Energieinstituten.

1996 - Arnoldo Alemán von der Aleanza Liberal gewinnt die Präsidentschaftswahl gegen den FSLN-Kandidaten Daniel Ortega.

1998 - der Hurrikan Mitch richtet in Nicaragua schwere Schäden an. 4.000 Menschen sterben, Seuchen brechen aus. Ein Teil der Hilfsgüter wird von der Regierung Alemán veruntreut.

2001 - der bisherige Vizepräsident Enrique Bolaños von der Liberal-Konservativen Partei (PLC) gewinnt die Wahl mit 56 Prozent gegen Daniel Ortega (42 Prozent). Die FSLN hält aber die Mehrheit im Parlament.

2003 - Arnoldo Alemán wird in einem Aufsehen erregenden Prozess wegen Korruption zu einer 20jährigen Haftstrafe verurteilt. Das Pro-Kopf-Einkommen liegt 2003 mit 623 Euro pro Jahr weit unterhalb der Armutsgrenze in Zentralamerika.

2005 - gegen den zusehends isolierten Präsidenten Bolaños bildet sich eine Zweckallianz aus Sandinisten und Liberalen.


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