Die großen, das heißt immer noch: westdeutschen Medien sind nur schwer zur Berichterstattung über ostdeutsches Theater zu überreden. Da bedarf es schon einer Volker-Braun-Uraufführung oder rüder Dresdner Weber. Noch einfacher aber funktioniert es mit der Einladung einer Ministerin, als embedded journalists auf Entdeckungsreise in die ostdeutsche Theaterprovinz zu gehen. Kulturstaatsministerin Christina Weiss rief und Theaterkritiker von großen Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen ließen sich auf dreitägiger Busreise ostdeutsches Theater als Wille und Idylle vorführen.
Mancher stieß auch nur für einen Nachmittag und einen wohlgemeinten Bericht hinzu. Wer länger mitfuhr, erlebte mehr, erfuhr allerdings nur das, was man ihm zeigte u
as, was man ihm zeigte und erzählte. Und da die alte Tradition, sich auf ein Thema recherchierend vorzubereiten, augenscheinlich nicht mehr gepflegt wird, ließ man sich vor Ort alles erklären. Man staunte über ein sächsisches Kulturraumgesetz und darüber, dass in Zittau nur noch Schauspiel und in Görlitz nur noch Oper produziert wird, Austausch inbegriffen. Seit wann, warum und mit welchen Folgen: für solche Fragen war keine Zeit mehr. Anfangs klangen die Gespräche im Bus, als ginge es auf eine ungewisse Expedition in fernste Gegenden. Neugier und Unkenntnis waren gleich groß. Christina Weiss nannte ihre Reise, mit der sie weniger auf die Probleme der kleinen Stadttheater als auf deren für die gesamte Theaterlandschaft unabdingbare künstlerische Produktivität hinweisen wollte, "Theateroffensive".Die Kulturministerin gehört zur seltenen Spezies der Politiker, die das Theater sowohl kennen wie lieben. Das hat sie, anders als die kleine und vor allem ostdeutsche Bühnen ignorierende Jury des Theatertreffens, vor Berührungsangst mit dem Provinztheater bewahrt. Da Meldungen aus ostdeutscher Theaterlandschaft vor allem von Schließungen, Spartenabbau, Entlassungen und von Zusammenlegungen von Theatern künden, hatte sich die Ministerin drei eher positive Beispiele ausgesucht. Immer wieder wurde betont, dass die Zahl der Spielstätten sich erhöht habe. Dass dies nicht Ausdruck aufblühender Theaterkunst, sondern Ergebnis heftigen Kampfes verkleinerter Bühnen um ihr Publikum ist, kam nicht zur Sprache. Genau so wenig, dass eine Route, die quer durch Ostdeutschland führte (vorbei an Senftenberg nach Zittau, von dort nach Meiningen, dann zurück nach Senftenberg), der Tatsache geschuldet war, dass viele ostdeutsche Theater nur mehr am Wochenende spielen.Dabei waren mit dem Gerhart-Hauptmann-Theater im sächsischen Zittau, der brandenburger Neuen Bühne Senftenberg in und dem Südthüringischen Staatstheater Meiningen Bühnen ausgewählt worden, denen die Begeisterung sowohl der Einwohnerschaft wie der Politiker für "ihr" Theater gemeinsam ist. In Orten, deren stark geschrumpfte Einwohnerschaft zwischen dreiundzwanzig und dreißigtausend zählt und deren Arbeitslosenzahl über zwanzig Prozent beträgt. Nur Meiningen hat es besser, weil seine Einwohner zur Arbeit nach Hessen und Bayern ausschwärmen können. Dennoch: Publikumsschwund durch Abwanderung der Bevölkerung und künstlerische Krise durch politisch gewollten Spardruck ist die Regel. Weshalb an die Stelle von Konzepten und Wagemut oft Anpassung an eine Unterhaltungs- und Event-Kultur tritt.Wenig davon in Zittau: Wo fast 30 Prozent Arbeitslosigkeit herrschen und 9 Prozent NPD-Wähler sind, verordnet sich das Theater die Funktion eines Kulturzentrums und öffentlichen Diskussionspodiums. Man hat wenig Geld, aber um so mehr Engagement. Keiner ist hier nur Schauspieler oder nur Bühnenbildner, jeder füllt zugleich mehrere Funktionen aus. Die Bühne, die nach der Wende für zwei Jahre als ABM-Maßnahme überlebte, liegt wie eine mächtige Burg am Rande der hübschen barocken Altstadt. Während letztere bereits gegen 21 Uhr verödet wirkt, werden im Theater Kunst und Lebenstrost, belegte Brote und Getränke geboten.Das Zittauer Theater wendet sich in jeder Hinsicht der Realität des Ortes und den Problemen der Menschen zu. Intendant Roland May bot mit seiner Inszenierung von Fritz Katers Zeit zu lieben Zeit zu sterben, einem Bilderbogen ostdeutscher Entwicklungsgeschichten, einen Schnelldurchlauf durch moderne Theaterstile: mit Tanztheater, chorischem Sprechen und dekonstruierenden wie psychologisierenden Szenen. Das war mit Engagement und Spiellust vorgetragenes Theater, bei dem man verstand: Provinz muss nicht konservativ oder konventionell heißen.Allerdings: Wie typisch eine solche Aufführung für das Repertoire ist, in dem auch die Erfolgsstücke Rocky Horror Show, Das Ballhaus und Ladies Night stehen, kann der Stippvisiter schwer einschätzen. Immerhin: bei 70.000 Zuschauern pro Spielzeit, Freilichttheater im Karl-May-Stil mitgerechnet, weist die Statistik jedem Einwohner drei jährliche Theaterbesuche zu. Die Podiumsdiskussion mit der Ministerin war überfüllt, doch gejammert wurde nicht. Ohnehin wurde auf der Reise kaum von Geld und Unterstützung geredet. Nicht von der Ministerin, die jeden Anschein einer Einflussnahme vermeiden wollte (Kultur ist Ländersache), und nicht von den Theaterkünstlern. Die präsentierten sich mit großem Einsatz und mit politischen Absichten. Von Haustarifverträgen, vom Verzicht auf Zuschläge und Einkommenserhöhungen war nie die Rede. Weil der längst die zum Überleben der Theater akzeptierte Regel sind. In Zittau setzt man auf das Ensemble und auf die Kraft von Geschichten und kräftigen Figuren. So schafft man lebendiges politisches Theater, wie es auf westdeutschen Bühnen längst obsolet ist.Auch in Senftenberg will man Geschichtentheater für Stadt und Region machen. Ästhetische Experimente interessieren weniger. Weshalb Neuintendant Sewan Latchinian die Spielzeit in der Neuen Bühne Senftenberg, dem einstigen, um das Musiktheater beraubte Theater der Bergarbeiter, mit einem Glückauffest begann. Mit zehn Stücken an einem Abend verhandelte das Theater die Gegenwart und bot zugleich ein Fest. "Ich will Geschichten durch Schauspieler erzählen. Dabei ist mir der Begriff Werte der wichtigste", hob der Jungintendant hervor. Die hohe Arbeitslosigkeit unter Schauspielern gibt Provinzbühnen wieder ihre Rolle als Sprungbrett zurück: Latchinian konnte für sein starkes Ensemble unter 500 Bewerbungen wählen. Eine moderne Version von Wedekinds Frühlingserwachen unter dem Titel Teen Spirit 2004 verhandelte mit Kraft und Witz zur Begeisterung des jungen Publikums dessen Probleme.Am Abend zuvor hatte die ministerielle Expeditionstruppe im Meininger Dreispartenhaus dagegen einen Zuschauerraum in Aufruhr erlebt. Res Bosshart, von Hamburgs Kulturfabrik Kampnagel ans kleinstädtische Mehrspartenhaus (731 Plätze für 23.000 Einwohner) gewechselt, musste bei Amtsantritt gleich das Ballett abwickeln. Dann suchte er an einem Theater, das bei über achtzigprozentiger Auslastung als wichtigster ökonomisch-touristischer Faktor der Stadt Publikum von weit her anzog, moderne Theaterformen einzuführen. Auch wenn Jarg Patakis körpersprachlich poetische Inszenierung von Dantons Tod, die Wort, Bild und Bewegung auf so faszinierende wie zuweilen kunsthandwerkliche Weise trennt, eine vom regionalen Publikum angenommene Inszenierung ist, tobte dies in der vorhergehenden Diskussionsrunde gegen den ungeliebten Intendanten. Eine Stadt, die kaum jüngere Zuschauer, aber eine tiefe Liebe der Bevölkerung zu ihrem Theater aufweist, sollte wohl eher nicht unvorbereitet mit modernem Performance-Theater konfrontiert werden, bei dem ein Sebastian Baumgarten auf den Spuren von Frank Castorf inszeniert. ( Aktuell registriert man in Meiningen elf Prozent weniger Touristen bei fünf Prozent Zuwachs in ganz Thüringen!)Kraft und Gefährdungen der ostdeutschen Theaterprovinz - beides vermittelte die Reise der Kulturstaatsministerin. Der deutsche Bühnenverein hat aus ihr seine eigenen Schlüsse gezogen. Er ruft zu einer gemeinsamen Initiative von Bund, Ländern und Kommunen zum Erhalt der deutschen Theater- und Orchesterlandschaft auf. Die Ministerin wird weiter reisen. Was die Theaterkritiker der großen Zeitungen gelernt haben, ist nicht bekannt.
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