A
Alice im Wunderland Als das Mädchen Alice das berühmteste weiße Kaninchen der Weltliteratur traf, hatte sich sein Schöpfer bereits den Künstlernamen Lewis Carroll gegeben. Der studierte Mathematiker und Theologe stand vor der Priesterweihe, ehe er sich dem Schreiben und Fotografieren zuwandte. Seine häufigsten Modelle waren Mädchen zwischen zehn und zwölf, vorzugshalber nackt. Darüber wurde schon alles gedacht und geschrieben. Ein Mädchen hieß Alice. Ihr Alter Ego in Carrolls 1865 erschienener Geschichte erlebt eine Welt, in der alles auf dem Kopf steht: der Raum- und Zeitbegriff ebenso wie die Denk- und Sprachstrukturen. Alice versucht dem Nonsens mit eingetrichtertem Erwachsenenwissen aus der Echtwelt zu begegnen – und entlarvt dessen Prinzipien so ihrerseits als Nonsens. Alice im Wunderland war das erste nicht-pädagogische Kinderbuch. Mark Stöhr
Anspruch Spezielle Kinderliteratur ist natürlich sinnvoll, doch es spricht nichts dagegen, den Nachwuchs auch mal mit einem anspruchsvolleren Buch der Hochliteratur zu unterhalten. Es müssen ja nicht gleich Bukowski oder Jelinek sein, aber Klassiker wie Der kleine Prinz oder Die unendliche Geschichte sind für Erwachsene und Kinder gleichsam bedeutend.
Meine Eltern lasen mir oft einfach aus den Büchern vor, die gerade auf ihrem Nachttisch lagen. So wurde ich früh vertraut mit Erwin Strittmatters Der Laden und Peter Ustinovs Autobiografie Ich und Ich. Das Interessante daran: Kinder lachen über andere Stellen als Erwachsene und verstehen vielleicht nicht alles oder manches anders. Für sie ist es so unter Umständen ein ganz anderes Buch. Ich hatte manche lustigen und erkenntnisreichen Momente, als ich mir diese Werke Jahre später noch mal zu Gemüte führte. Sexuelle Inhalte hatte ich vorher etwa gar nicht wahrgenommen oder sie hatten ihren Teil zur Aufklärung beigetragen, frei nach dem Motto: „Mama, was ist denn ein Kondom?“ Sophia Hoffmann
G
Grüffelo Gute Kinderbücher handeln oft von der Überwindung der Angst. Davon und vom Sieg der Kleinen über die Großen erzählt auch Der Grüffelo, den die Autorin Julia Donaldson und der Illustrator Axel Scheffler 1999 veröffentlichten. Darin trifft eine Maus nacheinander auf einen Fuchs, eine Eule und eine Schlange. Um sich zu schützen, imaginiert sie ein Treffen mit einem hässlichen Monster: dem Grüffelo. Das macht sie, bis sie tatsächlich vor diesem steht. Damit der Grüffelo sie nicht frisst, erklärt sie nun, alle Tiere hätten vor ihr Angst. Und weil sie vom Monster begleitet wird, nehmen wirklich alle Reißaus. Schließlich auch der Grüffelo. Am Ende genießt die Maus das Alleinsein. Was man halt so macht, wenn man die Angst überwunden hat. Jan Pfaff
I
Illustrationen In Kinderbüchern spielen Illustrationen eine zentrale Rolle. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede zwischen jenen, die Erwachsene ansprechen, und jenen, die Kinder lieben. Erwachsene präferieren künstlerisch anspruchsvolle, aufwendig gestaltete oder modern zurückhaltende Darstellungen. Kinder dagegen mögen es bunt, knubbelig, detailverliebt. Kitschig gezeichnete Tierbabys finden größeren Anklang als abstrakte Landschaften mit Strichmännchen. Kinder möchten etwas anschauen, das sie beeindruckt und das nicht aussieht, als hätten sie es selbst gemalt. Ambivalent ist ihr Verhältnis zu Bildern, vor denen sie sich fürchten. Ich erinnere mich, dass mir überrealistisch gezeichnete Menschendarstellungen sowie Schwarz-Weiß-Radierungen unheimlich waren. Es war derselbe Kitzel zwischen Abscheu und Anziehung, den ich heute noch verspüre, wenn ich einen Horrorfilm sehe. SH
K
Kalter Krieg Nein, die Mauer in unseren Köpfen existiert natürlich nicht mehr. Schließlich sind wir schon sehr lange ein ost-westdeutsches Paar. Der Kalte Krieg bricht trotzdem ab und zu aus, und das Kind gerät zwischen die Fronten. Meistens leider dann, wenn die Sonne schon untergegangen ist, alle müde und genervt und überhaupt sind, und das Kind eigentlich nichts anderes als seine Abendlektüre essen will. Dabei ist es uns schutzlos ausgeliefert.
Der Vater, findet die Mutter, schleppt dann oft so überpsychologisierten Quatsch an. Gern aus Skandinavien. In diesen Büchern schreien die Kinder ihre Mütter an, weil die Strumpfhose kratzt, und die Mütter entschuldigen sich dafür. Also für die Strumpfhose. Die Mutter dagegen, findet der Vater, hat eine Vorliebe für Geschichten, in denen die Kinder sich heldengleich durchs Leben kämpfen und ihnen nur Kosmonauten, Feuerwehrmänner, Malermeister, Bürgermeister oder andere männliche Autoritäten zur Seite stehen. Sie scheinen so gottverlassen auf dieser Welt. Was aus unserem Kind einmal wird? Keine Ahnung. Vielleicht ein Feuerwehr-Psychologe? Jana Hensel
P
Pädagogik Was macht ein Kinderbuch zu einem wirklich guten? Was verwandelt Papier in einen wertvollen Gefährten? Bei Bilderbüchern sind es oft die liebevollen Illustrationen. Bei Vorlesebüchern sind es der Witz und die Sprache. (Es lebe Paul Maar!) Und bei Jugendbüchern die schnelle Folge guter Einfälle. (Was lasen Zehnjährige eigentlich vor Harry Potter?)
Aber es gibt auch den nicht totzukriegenden Wunsch von Verlagen, Autoren und vor allem Eltern, durch eine Geschichte einen besseren Menschen, ein besseres Kind, zu schaffen. Eingebaute Pädagogik, um das Werk sinnvoll, wertvoll und zwischenmenschlich wegweisend zu machen. Kommt das gut an bei Kindern? Meist nicht. Sie spüren die Absicht und sind verstimmt. Pädagogik ist in der Regel Gift für Geschichten. Und Kinder merken sehr genau, wenn man ihnen was unterjubeln will. Oda Hassepass
Preußler, Otfried Einen bedeutenden Kinderbuchautor erkennt man nicht an der Länge seiner Nachrufe, sondern an der Lebendigkeit seiner Figuren. Das zeigte sich vergangene Woche eindrücklich, als bekannt wurde, dass Otfried Preußler am 18. Februar im Alter von 79 Jahren in Prien am Chiemsee gestorben war. Nicht der lange Nekrolog dominierte die Feuilletons, sondern eine Vielzahl subjektiver Erinnerungen, in denen sich Redakteure in ihre Kindheit mit dem Räuber Hotzenplotz, Der kleinen Hexe und Krabat zurückträumten. Wenn man diese Kurztexte las, konnte man zu keinem anderen Schluss kommen: Ja, Preußler hat dieses Land geprägt. Vor der Lebendigkeit von Hotzenplotz und dem kleinen Wassermann kapitulierte die sonst so kühl-analytische Kritik. Einwände wie jener, dass Preußlers Gesellschaftsbild vielleicht nicht gerade fortschrittlich war, wirkten da nur kleinlich. Potzblitz aber auch! jap
S
Spurbücher In meiner Erinnerung sind die Bände dunkelgrün und zerlesen. Als Grundschülerin barg ich sie aus den Beständen unserer alten katholischen Pfarrbibliothek, weil mir die Zeichnungen gefielen. Und dann kam ich viele Nächte von der Erik-Reihe von Serge Dalens nicht mehr los. Wen liebte ich mehr, den blonden norwegischen Titelhelden, der im letzten Band den Tod fand, oder den dunkelhaarigen Christian d’Ancourt?
Jeder der seit 1937 in Colmar in der Spurbücher-Serie erschienenen Bände setzte übrigens mit einer Jahreszahl ein mit dem Zusatz „im Jahre des Heils“. Das war nicht nazistisch, sondern ging zurück auf einen Usus der bündischen Jugend, die im linksrheinischen Alsatia-Verlag, einem „katholischen Widerstandsnest“, Bewahrung fand. Ulrike Baureithel
V
Vampir Als Kind war Der kleine Vampir jahrelang mein Lieblingsbuch. Die Geschichten des Menschenkindes Anton und seines Vampirfreundes Rüdiger gefielen mir so gut, dass ich anfing mich über alle Maßen damit zu identifizieren. Meine beste Freundin und ich waren überzeugt, Grundschulkinder zu sein, die sich nachts in Vampire verwandeln. Wir mieden die Sonne, verweigerten Knoblauch und töpferten im Werkunterricht ausschließlich kleine Särge. Heimlich horteten wir faule Eier, um sie dann an Wände zu schleudern, gleich den farbenfroh geschilderten Vampir-Fest-Ritualen in den Büchern.
Als wir uns schließlich vom ersparten Taschengeld Särge kaufen wollten, weil Betten uns nicht mehr adäquat erschienen, hatten unsere Eltern genug. Trotzdem bin ich meiner Mama noch heute dankbar, dass sie für meine Kostümfeste in die Rolle der Tante Dorothee schlüpfte. Ich glaube, sie hatte auch Spaß ... SH
Vormachtstellung Als Platzhirsch in der Kinder- und Jugendliteratur gilt eine Frau: Astrid Lindgren. Ihre Geschichten über Pippi, Michel, Ronja oder die Kinder aus Bullerbü gehören in den meisten Familienhaushalten zum festen Abendritual. Oder muss man mittlerweile besser sagen: gehörten? Eine These der Marktforschung besagt, dass Kinderbücher vor allem von Erwachsenen über 30 gekauft werden (➝Zielgruppe). Sie werden bei ihrer Wahl meistens von eigenen Leseerinnerungen geleitet. Und diese waren bisher geprägt von den Klassikern des Genres: Maar, Ende, ➝Preußler und eben Lindgren. Mit jeder neuen Elterngeneration jedoch rückt eine neue Lesergeneration nach. Beim allabendlichen Vorleseritual dominieren mehr und mehr die Adepten von Joanne K. Rowling und Cornelia Funke. Doch wenn auch die Vormachtstellung von Astrid Lindgren schmilzt, ganz wird sie wohl nie aus den Kinderzimmern verschwinden. MS
W
Wickie „Natürlich“, hatte die Verkäuferin geraunt, sei das ein gutes Buch. Natürlich, hatte ich gedacht, Vorlesen kann nur pädagogisch wertvoll sein (➝Pädagogik). Ich kannte ja nur die Zeichentrickversion aus den Siebzigern. Schon die Musik versetzt mich zurück in meine Kindheit. Die Literaturvorlage stammt von dem Schweden Runer Jonsson. Was mein Sohn, fünf Jahre alt, wohl denkt über das seltsame Konkurrenzding, das da zwischen Vater (Fäuste) und Wickie (Köpfchen) läuft? Die Sprache im Original ist rührend eloquent und öfter derb. Die Sache mit Tjure zum Beispiel. Die Wikinger von Flake ziehen ihm einen Sack über den Kopf, weil er so „heimtückisch und dämlich“ dreinschaut. Und Häuptling Halvar brüllt einmal wie ein „abgestochenes Schwein“, Wickie hat ihm eine Nadel in den Po gerammt. Das Kind fand’s lustig. Katharina Schmitz
Z
Zielgruppe Für wen werden Kinderbücher geschrieben? Für Kinder, wen sonst. Doch so einfach ist das nicht mehr. Auf dem Büchermarkt verschwimmen zunehmend die Begrenzungen zwischen Alt und Jung. Das Zauberwort der Marketingabteilungen heißt: „All-Age“. Dieses Label, das so natürlich nicht auf den Büchern klebt, ist die Eintrittskarte für die Bestsellerlisten. Es handelt sich um Fantasy-Titel wie Harry Potter oder die Bis(s)- und Tintenherz-Reihen, die eigentlich auf junge Leser im Alter von zehn, zwölf Jahren abzielen, in fast gleichem Maß aber auch von Erwachsenen goutiert werden.
Das Einstiegsalter für die „All-Age“-Literatur sinkt stetig, immer häufiger verzichten Verlage ganz auf eine Altersempfehlung. Experten vermuten hinter diesem Trend Fluchtreflexe der Erwachsenen in schwierigen Zeiten. Was früher der Groschenroman gewesen sei, sei jetzt das Kinder- und Jugendbuch. Fragt sich nur, wer die Kinder vor dieser Infantilisierung ihrer Eltern schützt. MS
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