Lettlands Finanzminister Atis Slakteris sorgt gern für Schlagzeilen. Als im Herbst der Staatsbankrott drohte, reagierte der Minister darauf in einem Interview mit den Worten: „Alles ist OK“. Seitdem frisst sich der brisante Satz wie ein Lauffeuer durch die Medienlandschaft, stößt auf massives Unverständnis und untergräbt die Autorität der Mitte-Rechts-Regierung.
Zane Licite, Mitarbeiterin im Pressestab des Präsidenten, reagiert gelassen auf die Frage, ob „alles OK“ sei. Sie erklärt: Solange das Geld reiche, gehe es ihr gut. Doch wie lange das Geld reicht, ist derzeit kaum abzuschätzen. Zane gehört zu einem der ersten Opfer eines staatlichen Reformpaketes. Wie fast jeder zehnte Staatsdiener erhielt auch sie eine fristlose Kündigung. Um die Lohnkosten des Staates weiter zu senken, hat die Regierung die Gehälter der Beamten mit einem Monatseinkommen von umgerechnet mehr als 480 Euro brutto um 15 Prozent gekürzt und die Zulagen gestrichen. Während die Krise den Arbeitsmarkt mit Arbeitslosen überflutet, möchte sich Zane erst einmal etwas entspannen, bevor sie nach einem neuen Job sucht. Doch die Lage am lettischen Arbeitsmarkt wird mit jedem Tag prekärer, inzwischen grassiert das Gerücht, der Staat werde bald nicht mehr über die nötigen Einlagen verfügen, um das Arbeitslosengeld auszuzahlen.
Parteien und Verbände reagieren auf die unhaltbaren Zustände mit dem Aufruf zu Massenprotesten. Dabei ist es noch nicht sehr lange her, dass vielen lettischen Firmen die Schließung drohte, weil sie kein qualifiziertes Personal finden konnten. Doch im Augenblick ist vom baltischen Wirtschaftstiger kaum noch ein Schatten seiner selbst geblieben. „Die satten Wirtschaftsjahre sind vorbei“, sagt der Leiter des Büros der Konrad-Adenauer-Stiftung in Riga, Andreas Klein. Binnen Monaten habe sich der Wind gedreht. Die Letten hätten zuletzt weit über ihre Verhältnisse gelebt, nun bekämen sie die Folgen von Weltfinanzkrise und Rezession hart zu spüren.
Lettland leidet jedoch nicht nur unter einem konjunkturellen Absturz, es gäbe auch eine Führungskrise, sagt der ehemalige lettische Außenminister und Oppositionspolitiker Artis Pabriks. Er möchte von Schönfärberei á la „Alles ist OK“ nichts wissen. Zugunsten einer populistischen Politik habe die Regierung die vielen Warnungen der EU vor den Folgen einer überhitzten Wirtschaft ignoriert, so sein Vorwurf. Finanzminister Atis Slakteris führt Missstände im eigenen Land gern auf den globalen Markt zurück, die weltweite Finanzkrise sei die Ursache aller Turbulenzen. Doch die Opposition stellt sich taub, wenn diese Begründung laut wird, sie beklagt ein Versagen der Exekutive beim Krisenmanagement, die Probleme seien hausgemacht, obwohl doch niemandem entgangenen sein könne, dass die Inflation schon seit Jahren nicht mehr wirklich zu zügeln sei. Hinzu komme ein massiver, auf Krediten basierender Konsum der Bevölkerung. Die darauf folgende Explosion der Preise und Gehälter habe das Gleichgewicht zwischen Leistung und Produktivität gestört und sowohl die Finanz- als Immobilienbranche kollabieren lassen.
Der Internationale Währungsfonds (IWF), die Europäische Union und die skandinavischen Länder haben im Herbst einen gemeinsamen Rettungsplan gestartet, um Lettland vor dem Bankrott zu schützen. Mit einer 7,5 Milliarden Euro schweren Nothilfe sollte dem Land die Zahlungsfähigkeit gesichert werden, mehr nicht. Eine Konjunkturhilfe sieht anders aus, so dass sich die lettische Bevölkerung auf harte Zeiten einrichtet. Wie für viele Letten ist auch für Signe Kostatis die Situation frustrierend. Seit Monaten sucht sie im Internet händeringend einen Arbeitsplatz. Die 25-Jährige hat vor ein paar Jahren ihr Studium abgebrochen, um ihre eigene Firma zu gründen. Zu diesem Zeitpunkt entwickelte sich die lettische Wirtschaft im Rekordtempo. Wie viele ihrer Altersgenossen hegte Signe den Traum vom schnell verdienten Geld und einem guten Lebensstil. Dabei schien fast jedes Mittel recht zu sein. Eines Tages freilich stand die Polizei vor der Tür, durchsuchte ihre Geschäftsräume, nahm Akten mit. Es folgte ein langer juristischer Prozess, bei dem sich herausstellte, dass Kriminelle ihre Firma zur Geldwäsche genutzt hatten.
Heute wohnt die junge Mutter mit ihrer einjährigen Tochter im Krisenzentrum für junge Frauen im Rigaer Vorort Agenskalns. Beide müssen mit umgerechnet rund 50 Euro Sozialhilfe pro Monat auskommen. Das gleiche Dilemma droht einer ganzen Generation junger Familien, die in den Jahren des leicht verdienten Geldes riesige Konsumentenkredite angehäuft und einen Lebensstil finanziert haben, der weit über ihren Einkommensverhältnissen lag. Nun droht ihnen neben dem Verlust des Arbeitsplatzes die Zahlungsunfähigkeit. Die Mitgliedschaft Lettlands in der EU, die Verflechtung der baltischen mit den skandinavischen Finanzmärkten und die rasche Hilfsbereitschaft des IWF haben den EU-Debütanten vorerst vor einer Katastrophe bewahrt. Das Hilfspaket gibt der Regierung Handlungsspielraum, es ist jedoch keine Antwort auf die Notlage des Landes – schon gar nicht auf die politische Krise.
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