NS-Widerstand Vor 60 Jahren protestierten Frauen in der Berliner Rosenstraße gegen die Deportation ihrer jüdischen Angehörigen - nun relativiert die Forschung diese Aktionen
Am 27. Februar 1943 leitete die nationalsozialistische Führung einen erneuten Angriff gegen die noch im Deutschen Reich verbliebenen Juden ein: In einer großangelegten Aktion verhaftete die Gestapo in Zusammenarbeit mit dem Werkschutz Juden an ihren Zwangsarbeitsplätzen in den Rüstungsbetrieben. Wen man dort nicht antraf, der wurde aus der Wohnung, aus Arbeitsämtern und von der Straße geholt. Im ganzen Reichsgebiet lebten zu der Zeit nur noch etwa 51.000 Juden, gut die Hälfte davon in Berlin. 15.000 leisteten hier Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie. Die Gefangenen wurden auf mehrere große Gebäude in der Reichshauptstadt verteilt. Diejenigen, die im Geist der "Nürnberger Gesetze" als "arisch versippt" galten, etwa weil sie "arische"
e" Ehepartner hatten oder Kinder aus so genannten "Mischehen" waren, wurden zum größten Teil in die Rosenstraße 2-4, ehemals Sitz der Sozialverwaltung der Jüdischen Gemeinde, gebracht. Die meisten der im Zuge dieser später so genannten "Fabrik-Aktion" dorthin verschleppten Erwachsenen waren Männer.Unter ihnen befand sich Joseph Mannheim, der Vater von Gisela Mießner. Nachdem sie über den "Mundfunk" von den Aktivitäten der Gestapo erfahren hatte, machte sie sich auf die Suche nach ihm. In der Leitstelle der Gestapo sagte man ihr, sie solle in der Rosenstraße nachfragen. Gemeinsam mit ihrer Mutter, ihrer Schwester und ihrem damaligen Verlobten machte sich am folgenden Tag auf den Weg. Es war der 28. Februar, ein kalter Sonntagmorgen. Die Rosenstraße, ganz in der Nähe des S-Bahnhofs Börse (heute Hackescher Markt) war ungewöhnlich stark belebt für diese frühe Stunde, vor dem Gebäude mit der Hausnummer 2-4 hatte sich eine Menschenmenge eingefunden. Gisela Mießner erinnert sich auch heute noch daran, wie die Protestierenden, in der Mehrzahl Frauen, riefen: "Gebt unsere Männer frei!".Arno, ihr Verlobter, trug seine Wehrmachtsuniform und erfuhr von einem der Wachhabenden, dass sich Giselas Vater tatsächlich im Gebäude befand. Während sie selbst nur an diesem Sonntag zur Rosenstraße kommen konnte, fand sich die Mutter an jedem der folgenden Tage dort ein, um gemeinsam mit den Angehörigen der anderen Gefangenen für deren Freilassung zu protestieren.Zu den Gefangenen gehörte auch Hans-Oskar Baron Löwenstein de Witt. Er wurde am frühen Morgen des 27. Februar an seinem Arbeitsplatz in der Deutschen Waffen- und Munitionsfabrik gefangen genommen. Für die Nazis war er ein "Geltungsjude", und so musste der damals 16-jährige Junge Zwangsarbeit leisten. Mit Unterstützung des firmeneigenen Wachdiensts trieb die Gestapo die Zwangsarbeiter aus den Werkshallen und auf die Lastwagen. Dann ging es hinein nach Berlin. Unterwegs wurden weitere Gefangene aufgeladen. Auch Hans-Oskar Löwenstein kam schließlich, nach einem Aufenthalt in der Levetzowstraße, wo die Synagoge als Sammellager benutzt wurde, in die Rosenstraße.Heute wissen wir, dass etwa 1.500 Personen dorthin verschleppt wurden. Dabei war das Gebäude als Bürohaus für die Beherbergung so vieler Menschen überhaupt nicht geeignet, es mangelte vor allem an Toiletten, die sanitären Verhältnisse waren katastrophal. Unter den Gefangenen kursierten die wildesten Gerüchte, an die sich Hans-Oskar Löwenstein erinnert: "Es hieß, wir seien alle arisch versippt und die jüngeren Männer würden sterilisiert werden, um keine Nachkommen zu zeugen; dann wieder hieß es, wir kämen alle nach Auschwitz. Doch niemand wusste Genaues, quälende Ungewissheit bestimmte die Tage."In der Nacht zum 2. März bombardierte die Royal Air Force in einem Großangriff mit mehr als 250 Flugzeugen Berlin. Er forderte mehr als 700 Menschenleben und zerstörte fast ebenso viele Gebäude. Die Gefangenen in der Rosenstraße 2-4 waren dem Angriff schutzlos ausgeliefert, sie durften keinen Luftschutzkeller aufsuchen. Inmitten des beängstigenden Bombenhagels empfand Hans-Oskar Löwenstein und viele seiner Mitgefangenen ein weiteres Gefühl. Der Angriff sei auch "Erholung und Freude" gewesen, denn "der nichtjüdische Deutsche" habe eben auch eine "Scheißangst um sein bisschen eigenes Leben" gehabt und sich deshalb "überhaupt nicht mehr um die Juden gekümmert."Am 6. März kamen die ersten Gefangenen aus der Rosenstraße frei, während fast alle übrigen Verschleppten nach Auschwitz deportiert und zumeist sofort ermordet worden waren. Lange Zeit war angenommen worden, die mehrtägigen Demonstrationen der Frauen hätten den Gefangenen das Leben gerettet. In den Tagebüchern von Joseph Goebbels findet sich unter dem Datum des 6. März ein Eintrag, der in diese Richtung interpretiert werden kann. Mittlerweile allerdings sind Dokumente aufgetaucht, die Zweifel an dieser Lesart aufkommen lassen. Im Mittelpunkt steht dabei ein Erlass der Gestapo Frankfurt/Oder vom 24. Februar 1943, in dem auf Anordnungen des Reichssicherheitshauptamts (RSHA) Bezug genommen wird. Danach sollten die in "Mischehe" lebenden Juden nach der Gefangennahme im Zuge der "Fabrik-Aktion" lediglich erfasst und anschließend "in ihre Wohnung" entlassen werden. Demzufolge war ihre Deportation nach Auschwitz zu diesem Zeitpunkt nicht vorgesehen.Der Historiker Wolf Gruner hat diese "neue" Lesart jüngst in der Nummer 11 des Jahrbuch für Antisemitismusforschung referiert. Doch so "neu", wie in seinem Beitrag vorgegeben, sind die von ihm präsentierten Dokumente nicht. Bereits in dem von Beate Meyer und Hermann Simon im Jahr 2000 herausgegebenen Sammelband über Juden in Berlin 1938-1945 ist der genannte Gestapo-Erlass zitiert. Ebenso in der im vergangenen Jahr erschienenen Neuauflage von Gernot Jochheims Frauenprotest in der Rosenstraße Berlin 1943. Hier wird, wenngleich verhalten, auch nach den Konsequenzen, die der Erlass für die Bewertung der "Fabrik-Aktion" und den Protest der Frauen hatte, gefragt.Als "Neuigkeit" lässt sich aus den Dokumenten allenfalls herauslesen, dass die Erfassung dem Ziel diente, aus dem Kreis der Gefangenen Kräfte zu rekrutieren, die die zur Deportation vorgesehenen "volljüdischen" Mitarbeiter der jüdischen Einrichtungen in Berlin ersetzen sollten. Offen bleibt dabei allerdings noch immer die Frage, warum die Gestapo die bereits hinlänglich erfassten Personen überhaupt erneut erfassen wollte oder erfasst hat.Nach allem, was wir heute über den Widerstand im Nationalsozialismus wissen, ist der offene Protest in der Rosenstraße einzigartig. Seit Anfang der neunziger Jahre wird regelmäßig daran erinnert. Am historischen Ort in der Rosenstraße im Bezirk Berlin-Mitte befindet sich seit 1995 ein von Ingeborg Hunziger gestaltetes Denkmal, ein Ensemble verschiedener Blöcke und Figuren aus Vulkangestein, während im Hotel Alexander Plaza mit der Adresse Rosenstraße 1 eine Dauerausstellung Gäste und Touristen über die damaligen Vorgänge informiert.Das ist immerhin eine Veränderung gegenüber der in Westdeutschland gängigen Rezeption, die den Widerstand im NS-Staat lange Zeit auf die Attentäter des 20. Juli 1944 reduzierte. Die umstrittene moralphilosophische Kritik Lothar Fritzes am Bürgerbräuattentat von Georg Elser belegt, dass sich Historiker mit der Beurteilung und Anerkennung anderer Arten des Widerstands, insbesondere der "kleinen Leute", bis heute sehr schwer tun.Für den Historiker Wolf Gruner zeigten die Menschen in der Rosenstraße ohne Frage Zivilcourage, obwohl sie nicht generell gegen die Transporte der Juden in die Vernichtungslager protestierten, sondern erst in dem Augenblick, als die Verfolgungsmaschinerie ihre eigene Familie erfasste. Eine aussichtsreiche Opposition gegen die antijüdischen Maßnahmen hätte sich nach Auffassung Gruners "jedoch schon viel früher und breiter formieren müssen: 1933 und in allen Schichten der deutschen Gesellschaft." Das lässt sich kaum leugnen, bleibt als Fragestellung aber akademisch, weil sie aus der komfortablen Position der kenntnisreicheren Nachgeborenen aufgeworfen wird. Den Frauen in der Rosenstraße, die die Freilassung ihrer Männer forderten, war indessen nicht bekannt, dass die Deportation der Gefangenen gar nicht vorgesehen war. Ihre Protestaktion wird dadurch subjektiv jedenfalls nicht entwertet.Ob sie objektiv ohne Belang war, lässt sich durch die "neue" Quellenlage letztlich auch nicht beweisen, denn offen bleibt, wie gesagt, warum die Gestapo die bereits erfassten Juden überhaupt zusammengetrieben und interniert hat. Schließlich mussten die Gefangenen bewacht und, wenn auch auf niedrigstem Niveau, verpflegt werden. Das Bild allerdings, das wir uns heute von den damaligen Vorgängen machen können, wird zunehmend vielschichtiger, und damit wächst die Chance für eine differenziertere Betrachtung, die auch den historischen Akteuren gerecht wird.
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