In einem offenen Brief erklären über 2.000 Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz ihre Besorgnis angesichts einer forcierten Digitalisierung der universitären Lehre. Sie fordern eine vorsichtige, schrittweise und selbstverantwortliche Rückkehr zu Präsenzformaten. Kernpunkte des Schreibens: Die zur Eindämmung der Pandemie unternommenen Umstellungen auf Fernlehre bedrohten analoge Begegnungen und kollektiven Austausch. Als Ort der Begegnung blieben Hochschulen gebunden an einen gemeinsam belebten Sozialraum. Dem ist unbedingt zuzustimmen – wenn sich auch fragen lässt, an wen sich diese Apologie der Präsenzlehre wendet und wie diese späte Intervention mit eigentlich selbstbestimmten Universitäten zusammenp
enpasst. Weit wichtiger sind Fragen nach den Konditionen und Konsequenzen jener Prozesse, die unsere Universitäten schon länger erfasst haben und nun eklatant vor Augen treten.Dabei muss man nicht so weit gehen wie der Philosoph Giorgio Agamben, der im Mai ein „Requiem für die Studierenden“ anstimmte und das Ende der traditionsreichen Gemeinschaft von Magistern und Scholaren beklagte. Auch die Diagnose des in Osnabrück lehrenden Literaturwissenschaftlers Kai Bremer, der in der FAZ eine „digitale Vollverschleierung“ durch Online-Lehre erkannte, greift daneben. Zweifellos ist das weitgehende Fehlen gestischer und mimischer Resonanz auf die Äußerungen von Lehrenden ein Problem. Doch dominiert tatsächlich die von ihm behauptete „latente Unsicherheit, ob hinter der Äußerung, die eben online getätigt wurde, überhaupt dasselbe Individuum steht, das sich unter diesem Namen in der letzten Woche geäußert hat“? Agieren die Teilnehmer*innen universitärer Online-Kommunikation „als Maske, als persona im ursprünglichen Sinne“?Es lohnt sich, genauer hinzuschauen und die komplexen Vorgänge der digitalen Wissensvermittlung zu sortieren. Neben den im Sommersemester 2020 explodierenden Formaten der synchronen Lehre mit Videokonferenzen (wozu wir an der Humboldt-Universität die US-amerikanische Software Zoom benutzen) gibt es schon seit Längerem digitale Lehrplattformen wie das virtuelle Kurssystem Moodle. Zu dessen Potenzialen gehören die Bereitstellung von Materialien (Texte, Bilder, Musik- und Filmsequenzen) sowie Kollaborationswerkzeuge und Prüfungsverfahren.Knappe RessourcenDiese Möglichkeiten asynchroner Wissensdistribution sind nicht nur unter Zwang physischer Kontaktbeschränkungen hilfreich: Über den Transfer von Dokumenten hinaus können Seminarteilnehmer*innen zu gemeinsamem Schreiben (per Etherpad) angeregt oder durch Tests bewertet werden. Und das nicht nur in stupiden Multiple-Choice-Abfragen, sondern mit Freitextfeldern für Thesen und Argumente. Klar, arbeitsaufwendig und mit belastenden Korrekturpflichten verbunden: doch auch eine Chance, den Studierenden auf den Zahn zu fühlen und zu erfahren, ob und wie etwas verstanden wurde. Sicherlich lassen sich so digitale Maskenträger erkennen.Keine Frage: Digitale Fernlehre ist anstrengend und dauerhaft kaum zu wünschen. Schon deshalb nicht, weil die Universität weit mehr als nur eine Variante der Wissensorganisation ist, sondern eine Lebensform: Hier können Interaktionen stattfinden, die eine Fülle von Einsichten und Ideen freisetzen, die in dieser Form kaum virtuell zu gestalten sind. Nur hier bilden sich kollektive Arbeitsformen und Netzwerke der Wissenschaft. Und wenn es entsprechend präsente Hochschullehrer*innen gibt, lassen sich Methoden des Erkenntnisgewinns unmittelbar erleben und studieren. Um die Wege des Wissens jedoch gemeinsam gehen zu können, bedarf es der wichtigsten (und knappsten) Ressourcen: Zeit und Aufmerksamkeit.Diese Ressourcen aber waren schon vor den Maßnahmen zur Eindämmung einer Virusverbreitung ungleich verteilt. Nach einer repräsentativen Umfrage der Hochschule Fresenius und des Marktforschungsinstituts Statista vom Ende März 2020 konnten sich nur 27 % der befragten Studierenden ganz auf ihr Studium konzentrieren; 41 % arbeiteten, 26 % waren in Teilzeit angestellt. Auch wenn sich diese Zahlen konjunkturbedingt ändern: Studieren ist zum Spagat zwischen Lernen und Arbeiten geworden. Deshalb verwundert es wenig, dass Studierende die pandemiebedingten Umstellungen auf digitale Vermittlungsformen nicht nur als negativ wahrnehmen. Eine keineswegs repräsentative Umfrage (in meinem Einführungskurs) zeigte sogar Zufriedenheit: Man könne morgens nicht zu spät kommen und entspannt von zu Hause aus lernen.Universitäten wird es weiterhin geben. Wenn wir sie als Gemeinschaft von Lehrenden und Studierenden wollen und realisieren. Dazu sollten wir auch fragen, warum Universitätsverwaltungen rigide in die Autonomie von Forschung und Lehre eingreifen können und welche Folgen die durchgreifende Ökonomisierung unseres Bildungswesens hat. Wie kann es sein, dass Bildung als wichtigstes Gut einer Gesellschaft und ihre Vermittlung in Präsenzformaten verteidigt werden muss und unsere Studierenden mit bizarr geregelten Nothilfen abgespeist werden?Placeholder authorbio-1