Schwester Karin geht vor einer zierlichen Frau in die Hocke, nimmt deren Hände und platziert sie an ihrer Hüfte. Daran soll sie sich festhalten und im Gänsemarsch mit der Pflegerin in den Aufenthaltsraum gehen. Die alte Dame zögert. Ihr Beine haben nicht genug Kraft, um sie ohne Hilfe zu tragen. Normalerweise wird sie von einem Rollator gestützt. Zaghaft vergräbt sie ihre Finger in dem gelben Pflegekittel. Ihre Augen weiten sich und ihre Mundwinkel sinken nach unten. Schwester Angelika stößt dazu, stellt sich hinter die zerbrechliche Dame und umklammert ihre Hüfte. „Jetzt machen wir eine Polonaise“, sagt sie, trällert eine Melodie und schwingt dazu den Po nach links und rechts. Die gebückte Frau hebt ihren Kopf und läc
8;chelt. „Ran an den Speck“, sagt sie und beginnt einen Fuß vor den anderen zu setzen. Langsam und bedacht.„Nicht nur Arsch abwischen“Schwester Angelika ist nicht nur Pflegekraft. Sie ist die gute Seele des Hauses. Ihr ist es wichtig, die Bewohner zu ermuntern, Herausforderungen anzunehmen. Und sei es nur, ein paar Schritte ohne den Rollator zu gehen. In dem Altenheim im Berliner Süden, in dem sie beschäftigt ist, sind 92 Menschen zu Hause. Sie leben in zwei Wohnbereichen, die sich auf vier Etagen erstrecken. Von ihrem Büro aus hat die Heimleiterin einen guten Überblick auf das Foyer: „Ich muss ja wissen, wer hier rein und raus spaziert.“ Viele Bewohner sind demenzkrank und in die übrigen Wohngruppen integriert, was auch zu Konflikten führt. Insbesondere die Sitzordnung beim Essen ist ein Streitpunkt. 35 Pflegekräfte – eine davon mit über 70 Jahren älter als mancher Bewohner – legen sich hier jeden Tag ins Zeug. Im Chor singen die Bewohner von griechischem Wein und bunten Blättern. Es wird viel gelacht. Tränen begegnen die Pflegekräfte mit aufmunternden Sprüchen. Allen voran Schwester Angelika.Bei einer demenzkranken Dame hört sie auch auf den Namen Ulla. Mit 53 Jahren ist Schwester Angelika nur wenig älter als so mancher Azubi im Haus. Ihr zum Zopf gebundenes Haar ist rötlich, sie berlinert und wirkt etwas burschikos. „Augen zu und genießen“, rät sie einem Mann, der seine Medikamente nehmen soll. Das frühe Aufstehen stört sie nicht: „Ich bin kein Nachtmensch.“ Freitags fängt sie schon um 6 Uhr an zu arbeiten. Wenn die ersten Bewohner aus ihren Zimmern kommen, begrüßt sie sie freundlich. Schlechte Laune am Morgen schiebt sie humorvoll beiseite. Sie erzählt den Bewohnern viel von ihrem eigenen Leben. Zum Beispiel von ihren vier Kindern und wie gerne sie mehr als nur einen Jungen gehabt hätte. Oder von ihrer Scheidung vor 16 Jahren. Manchmal bekommt sie Süßigkeiten oder Obst von den Bewohnern zugesteckt. Generell, sagt sie, habe man in der Öffentlichkeit ein ganz falsches Bild von ihrem Beruf: „Das ist nicht nur Arsch abwischen.“ Aber natürlich ist die Arbeit auch hart. Einer der Bewohner bringt 148 Kilogramm auf die Waage und kann sich nicht eigenständig bewegen. Das geht aufs Kreuz. Trotzdem möchte Angelika nichts anderes tun.Beim Einzug füllen die Angehörigen einen Biografie-Bogen aus. Die Beschreibungen seien jedoch meist spärlich, sagt Schwester Angelika, da es vielen Angehörigen schwerfalle, die Macken ihrer Liebsten gegenüber Fremden deutlich zu machen. Also ist es an den Pflegekräften, nach und nach herauszufinden, welche Bedürfnisse die Bewohner haben und wie man diese am besten befriedigen kann. Dokumentiert werden nicht nur Gewicht, Blutdruck und das Sturzrisiko, sondern auch Persönliches. Bei einer Bewohnerin steht, dass sie Hilfe beim Anziehen benötigt und Wert darauf legt, dass ihr Schmuck auf die Kleidung abgestimmt ist. Eine akribische Dokumentation sei zeitintensiv, aber wichtig, sagt die Pflegerin, um alle Bedürfnisse zu berücksichtigen. Das betrifft sowohl die individuelle als auch die ärztliche Betreuung. Nur mit detaillierten Pflegeakten könne der zuständige Arzt, der neben seiner Praxis weitere fünf Heime betreut, gewissenhaft arbeiten. In diesem Altenheim läuft die Zusammenarbeit besser als in solchen, die Leasing-Arbeiter beschäftigen. Viele Leasing-Arbeiter, sagt der Arzt, seien bei der Dokumentation ungenau.Um 15 Uhr treffen sich die Bewohner im Aufenthaltsraum bei Kaffee und Kuchen. Frau Hermann fällt es schwer, vom Kuchenstück abzubeißen, also zerkleinert es Schwester Angelika, spießt es mit der Gabel auf und führt diese zu ihrer Hand. Vom anderen Ende des Saales schreit eine Bewohnerin mit einem Dessertlöffel in der Hand, dass sie noch Hunger hätte. Schwester Angelika hebt kurz den Kopf und sagt, dass sie bereits vier Stück gegessen habe und keines mehr übrig sei. Dann konzentriert sie sich wieder auf Frau Hermann und versucht, sie zu ermuntern, dass sie ihr Stück Kuchen selbst zum Mund führt. Dabei lässt sie sich nicht aus der Ruhe bringen. Auch nicht, als eine andauernd kichernde Dame ihren Kaffee verschüttet, um Muster in die Pfütze zu zeichnen, während eine Frau mit hängenden Mundwinkeln zu Schwester Angelika sagt, sie solle die Klappe halten, und eine Braunhaarige zu singen beginnt. Schwester Angelika schüttelt den Kopf ungläubig, ermahnt die Vorlaute, dass man so nicht miteinander spreche und erinnert die Brünette, dass der Chor gerade woanders stattfinde. Dann wischt sie die Kaffeelache auf und legt der kichernden Bewohnerin die Hand auf die Schulter. Diese leidet an starker Demenz, das Kichern ist eine Nebenwirkung der Medikamente. „Davor hat sie geweint“, erklärt Schwester Angelika. „Ich bin froh, dass sie jetzt lacht.“Ab und zu ein DankeschönDie Pflegekräfte versuchen, den Alltag der Bewohner so normal wie möglich zu gestalten. Der Tod ist dennoch allgegenwärtig. Stirbt ein Bewohner, wird er gewaschen und ihm werden seine Lieblingssachen angezogen. Das Sterben wird hier nicht versteckt. Oft ist es jedoch schwer, Angehörige auf den Tod ihrer Liebsten vorzubereiten, denn auch das gehört zu den Aufgaben der Pfleger. Und der Umgang mit den Verwandten ist nicht immer leicht. Der Sohn der Bewohnerin, die gerade schon wieder Schwester Angelika anranzt: „Jetzt halten Sie mal Ihr freches Mundwerk“, hat beispielsweise kein Verständnis für die Klagen, die die Pflegekräfte über seine Mutter vorbringen. „Am liebsten würde ich seine Mutter einmal mit dem Handy aufnehmen, damit er weiß, wovon wir reden“, sagt Angelika und lacht. Denn immer, wenn er seine Mutter besuche, werde sie auf einmal ganz friedlich. Doch Angelikas Einsatz wird auch gewürdigt. Sie stellt einen Korb auf den Tisch. Ein Dankeschön von den Angehörigen einer Bewohnerin. Aus dem Korb ragt ein kleines Bäumchen, auf das Nase und Augen aufgemalt sind. Schokolade in allen möglichen Formen und Geschmacksrichtungen, auch Wein und Prosecco liegen darin. Der Korb ist mit viel Liebe zubereitet. Auch das kommt vor in Angelikas Pflegealltag.Placeholder link-1
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