Der Eurovision Song Contest ist unpolitisch. So schreiben es die Statuten des ESC-Veranstalters Eurovision Broadcasting Union vor. Was für jeden entweder naiv oder verlogen klingen muss, der das ESC-Geschehen mit allen Geschichten, die sich um ihn ranken, schon einmal verfolgt hat. Man denke etwa daran, wie Conchita Wursts Sieg vor zwei Jahren Europa gespalten hat: Einerseits wurde die bärtige Dragqueen aus Österreich als Ikone eines liberalen Europas gefeiert, andererseits zur Symbolfigur des Untergangs des Abendlands erklärt.
Der ESC ist immer politisch. Gleichzeitig ist das Insistieren auf seinem unpolitischen Charakter absolut notwendig, damit der Wettbewerb überhaupt stattfinden kann. Kein Land darf mit direkten Anklagen beim ESC auf die Bühne. Stellen wir uns vor, die Griechen würden ihrem Protest gegen die Sparpolitik der EU freien Lauf lassen, Großbritannien würde seine Brexit-Fantasien schon mal einen Monat vor der Abstimmung gesangsmäßig ausleben, oder Westeuropa sein Unverständnis gegenüber der osteuropäischen Haltung in der Flüchtlingsfrage zum Ausdruck bringen und umgekehrt – die Samstagabendunterhaltung wäre ruiniert, der ESC am Ende.
Die EBU muss also auf dem unpolitischen Charakter des ESC bestehen, wohlwissend, dass es sich dabei um einen Trick handelt. Der funktioniert in diesem Fall über die klare Unterscheidung von Text und Kontext. Denn was bei Einreichung der Songs bewertet wird, ist die Frage, wie explizit politisch oder nicht der Songtext selber ist. Letztes Jahr musste Armenien seinen Songtitel ändern. Don’t deny (Leugnet es nicht) erschien der EBU als ein zu deutlicher Verweis auf den Völkermord an den Armeniern vor 100 Jahren. Als Face the Shadow durfte der Song dann antreten. Solange die Liedzeilen auch als generelle Liebes- oder Friedensbotschaft verstanden werden können, geht die Sache in Ordnung. Für den Kontext, in dem ein Lied dann sehr wohl politische Bedeutung bekommt, fühlt sich die EBU nicht weiter zuständig.
Der diesjährige Siegertitel des ESC, Jamalas 1944 – die damit für die Ukraine antrat – ist ein interessanter Fall. Während der Songtitel mit der Jahreszahl auf ein historisches Ereignis verweist, ist der Text so allgemein gehalten, dass der genaue Inhalt unklar bleibt. Vor allem, wenn man mit den Details der ukrainischen-sowjetischen Geschichte nicht vertraut ist. Jamala – ausgebildete Opernsängerin und in der Ukraine ein Star – wurde seit Veröffentlichung des Songs im Februar aber nicht müde zu erklären, worum es in diesem Lied gehen soll, so dass bis zum ESC-Finale am vergangenen Wochenende in Stockholm die Botschaft auch bei jedem europäischen TV-Kommentator angekommen war.
Jamala singt von der Deportation der Krim-Tataren durch die sowjetische Armee – und damit von der Geschichte ihrer eigenen Urgroßmutter. Dass dabei nicht nur das historische Ereignis von 1944 angesprochen wird, sondern auch die Annexion der Krim durch Russland vor zwei Jahren, die zu einer erneuten Diskriminierung der Krim-Tataren geführt hat, ist dabei nicht zu überhören. Russland verstand auch sofort und legte prompt Beschwerde bei der EBU ein – die aber abgewiesen wurde. Jamala fuhr mit 1944 zum Contest und gewann auch noch am Samstagabend.
Für die Russen war dieser Sieg um so schmerzhafter, als sie doch alles daran gesetzt hatten mit Sergej Lazarevs You are the only one selber den Wettbewerb zu gewinnen. Schwedische Produzenten und griechische Choreographen und Bühnenbildner, ein Team, das schon mehrere ESC-Siege für sich verbuchen konnte, wurden engagiert, um Russland zum Triumph zu verhelfen. Und tatsächlich wurde Sergej Lazarev bei den Buchmachern als Favorit gehandelt.
Ohne Hemmung inszenierte das schwedische Fernsehen die Abstimmung am Samstagabend dann am Ende als spannendes Duell zwischen Russland und der Ukraine. Dass der Sieg schließlich an die Ukraine ging (Russland landete noch hinter Australien auf Platz drei), ist nicht der mangelnden Publikumsgunst geschuldet. Beim Televoting lag Russland vorne – auch in Deutschland. Aber 50 Prozent des Endergebnisses hängen vom Votum der nationalen Juries ab. Und hier fiel Russland bei der Hälfte durch. 20 von 41 Juries gaben dem russischen Beitrag null Punkte. Hatten die Juries nach ästhetischen Gesichtspunkten entschieden – Lazarevs Pop-Stampfer war zwar im Paket irgendwie effektiv aber nicht unbedingt innovativ – oder tatsächlich politisch? Unmöglich das zu wissen. Dass Jury-Meinung und Televoting deutlich von einander abweichen, ist zumindest keine Seltenheit. Schon letztes Jahr hatten die Juries den Italienern den Sieg vermasselt.
Aber die russische ESC-Delegation zeigte sich als schlechter Verlierer und witterte sofort eine Verschwörung. Prompt forderte sie eine Änderung der Regeln, eine Begrenzung des Gewichts der Jury-Stimmen auf 25 Prozenz – sonst gäbe es Konsequenzen. Schon letzte Woche hatte die ukrainische Delegation ihrerseits bekannt gegeben, dass sie im Fall eines russischen Sieges nicht am ESC 2017 – der dann in Russland stattgefunden hätte – teilgenommen hätte.
Weit davon entfernt unpolitisch zu sein, sieht es also ganz so aus, als wäre der diesjährige ESC nicht nur zum Schauplatz des Konflikts zwischen Russland und der Ukraine geworden, sondern als hätte er ihm sogar neuen Zündstoff beschert. Doch vielleicht ist auch das Gegenteil der Fall. Während die ESC-Delegationen Wortgefechte ausgetrugen, saßen die Zuschauer vor den TV-Geräten und stimmten darüber ab, welches Lied ihnen am besten gefiel. Könnte es sein, dass sich hier die friedensliebende Botschaft des ESC doch verwirklicht hat? Denn beim Televoting bekam Russland die Höchstpunktzahl aus der Ukraine und umgekehrt war der ukrainische Siegertitel am Wochenende auf Platz zwei der russischen iTunes-Charts geklettert – gleich hinter dem russischen Beitrag.
Kommentare 10
1944: Poro grüßt aus Stalingrad...
3 tage danach: "gähn".
oder : eis manipuliert? war der puck der tschechen gedopt?
Der Eurovision Song Contest ist eine Veranstaltung, die den Zuschauer das Fremdschämen lehrt. Die Musik seicht und austauschbar, ebenso wie die meisten Interpreten. Die Kürze der getragenen Röcke vieler Sängerinnen steht im umgekehrten Verhältnis zur Wohlgeformtheit ihrer Beine und die meisten der getragenen Kostüme lassen einen erschauern. Kurz, dieser Song Contest ist eine durch und durch peinliche Veranstaltung, die spätestens seit dem Auftritt von Conchita Wurst 2014 in Kopenhagen unter dem Motto ‚Show, Freaks und Monster‘ laufen könnte. Dass er/sie/es dann auch noch gewonnen hat: Da musste ich herzlich lachen!
Allerdings hatte es mich auch schon einmal gepackt. Das war im Jahr 2013, als LaBrassBanda, eine Bläser-Kultband aus Bayern, in der deutschen Vorentscheidung um die Teilnahme am European Song Contest stand. LaBrassBanda! Fand ich echt gut. Zum ersten Mal saß ich am Abend der Entscheidung vor dem Fernseher, habe für LaBrassBanda mitgefiebert, für sie abgestimmt und mit Spannung das Ergebnis erwartet. Und siehe da, wie ich empfanden wohl auch viele andere Zuhörer: LaBrassBanda und ihr Song „Nackert“ lagen beim Hörer- und Publikumsvoting unschlagbar weit vorne! Die einzige Möglichkeit, sie zu kippen und auf Platz 2 zu verweisen, bestand darin, dass die Fachjury ihnen keine höhere Punktzahl als eins (von 10) zugestand. Und genau dies geschah! So wurden sie von der unsäglichen „Cascada“ ausgebootet, die statt ihrer zum Song Contest nach Malmö fuhr. Wie groß die Chancen von LaBrassBanda gewesen wären, weiß man nicht, Platz 21 wie Cascada hätten sie bestimmt auch geschafft.
Bei den LaBrassBanda-Fans machte sich der Ärger Luft. Es war unglaublich, was da geschehen war! Hemmungslose Schiebung vor den Augen eines Millionenpublikums! Es empörte sich sogar die Lokalpresse. Und mir wurde schlagartig klar: Siegen kann nur, wer Einheitsbrei liefert und auf Englisch singt.
Was dann am letzten Samstag in Stockholm passiert ist, war für mich also ein wenig überraschendes déjà-vu-Erlebnis. Eine sogenannte „Fachjury“ kippt absolut dreist das Votum der Zuhörer und macht das Ergebnis passend.
Allerdings passiert hier im kulturellen Bereich – insoweit man die Gesangsbeiträge als Kultur durchgehen lassen will – das gleich, das auch im Sportbereich geschieht. Es findet eine Politisierung statt, die ein Russland-Bashing zum Ziel hat. Den Verantwortlichen sollte allerdings langsam klar werden, dass sie damit nicht Russland schaden, sondern den Musik- und Sportveranstaltungen, die nicht mehr ernst genommen werden können.
Mein Vorschlag für den Song Contest: Es sollten nur noch Lieder in Esperanto gesungen werden und das Ergebnis der Fachjury wird bereits einen Tag vorher bekanntgegeben.
http://www.hna.de/kultur/tv-kino/labrassbanda-fans-sauer-jury-nach-niederlage-gegen-cascada-zr-2752631.html
https://www.youtube.com/watch?v=U7hOiNlWJpY
Sieht so aus, als hätte die Methode, eine Jury einzusetzen, die dann für unerwünschte Beiträge 0 Punkte vergibt, den ersten Test schon vor drei Jahren bestanden.
Dank , hatte ich naturgemäß so nicht mitbekommen.
Sie haben es eigentlich abschließend und umfassend beschrieben. Mir würden da nur sehr viel plumpere Sätze einfallen. So was wie, was für ein verkommener Bewerb mit was für einer lausigen Musik in den Händen von Paten, die es nur nicht in die FIFA geschafft haben.
Ne, besser Sie machen das. Ich bin mir jetzt auch nicht so sicher, ob bald nicht nur ausländische Potentaten Beleidigungsverbrecher verklagen können. In Zukunft dürfen dann das auch Wettberbe und sowas.
So was übrigens spielt in Östereich in ausverkauften Häusern:
https://www.youtube.com/watch?v=xREl_68O-mw
Aber, uncoole Klamotten. Rauchen im Video und auf der Bühne. Keine gescheite Choregrafie. Geht nicht, geht gar nicht.
Die ursprüngliche Idee des Grand Prix... war es, den Europäern die kulturelle Vielfalt Europas zu zeigen. Übrig geblieben ist kommernzielle Einfalt in schlechtem Industrie-Amerikanisch, gepaart mit politischem Imponiergehabe und Kraftmeierei. Weg damit.
Der erste ESC, der mir nicht gefiel :
Zu viel Lichtshow & Maschinenwind , dazu die hölzerne
Moderation . Die Länderteilnehmer-Imagefilme waren mies, unsere Teilnehmerin hat z. B. mit dem Berliner Dom garnichts zu tun.
Unter diesem Gesamtpaket der Gleichmacherei litten alle Künstler .
Daß der Zuschauer die Finanzierung übernimmt per Telefonvoting, ist eine weitere Frechheit .
Das Interessanteste war leider wirklich die politische Konstellation , die Sie hier sehr gut erklärt haben,
also schönen Dank.
Mir hat die Italienerin am besten gefallen.
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So ging es mir auch. Ich war total enttäuscht, dass LaBrass Banda damals so ausgetrixt wurde.
Das Einzige, das am ESC 2014 peinlich war, waren solche beleidigende Kommentare, wie Sie ihn formuliert haben, um Conchita Wurst in einen Zusammenhang mit Monstern und Freaks zu bringen. Verzichten Sie doch darauf ihr Konzept von Geschlechterrollen anderen aufzwingen zu wollen, indem Sie anderen Menschen, die kein heteronormatives Rollenverständnis haben, beleidigen und lächerlich machen.
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P.S.: "Allerdings passiert hier im kulturellen Bereich – insoweit man die Gesangsbeiträge als Kultur durchgehen lassen will – das gleich, das auch im Sportbereich geschieht."
Unkultur ist auch Kultur Inhalt von Kultur.
Der russische Beitrag 2016 war unterdurchschnittlicher, ausgenudelter Plastik-Pop. Fast so schlecht wie das völlig zurecht auf dem letzen Platz gelandete dt. Lied. Falls man von Lied da überhaupt sprechen kann. Gut gesungen, aber nix dahinter. Wirklich gut war Polina Gagarina im letzten Jahr. Welten besser als Schwedens "Heroes", wenn man mich fragt. Aber mich fragt ja immer keine/r.
Und weil über Geschmack streiten gaaar nicht geht, habe ich den Rest da mal hin geschrieben. Viel Spaß damit.