Jahrestage sind willkommene Gelegenheiten, Vergangenes zu rekapitulieren. Siege, Niederlagen, Erfolge, Anpassung und Widerstand heißen nun Geschichte. Manchmal liegt die nur 15 Jahre zurück. Manchmal verbindet sie sich mit einem konkreten Ort. Manchmal ist sie für die Beteiligten ein Lebensgefühl. "Das war ein grandioses Erlebnis, den Staat zu stürzen." Im Herbst 1989 erlebt die damals 17-jährige Charlotte Butzmann, wie die DDR ins Koma fällt. Charlotte ist eine der Zeitzeugen, die der Filmemacher Hans Sparschuh in seiner Dokumentation Gethsemanekirche. Das Ende der Eiszeit erzählen lässt. Die Gethsemanekirche - damals ein Ort für Andersdenkende. Der Film - er war am 3. Oktober im Radio Berlin-Brandenburg (RBB) zu sehen - führt in den
rt in den Herbst 1989, als alles anders wurde. Durch klugen Verzicht auf denkbares Pathos in Bild und Text und im Vertrauen auf die Macht einfacher Worte und authentischer Erinnerungen erschließt sich das Wesentliche dieser Zeit: Einer entrechtenden Bevormundung und des politischen Kleingeheges müde, verändern Menschen das Land, in dem sie, so wie es ist, nicht mehr leben wollen. Dieses Wollen, sagt Charlotte Butzmann, "drängte nicht zur Gewalt, aber zum Ausdruck." Sie seien auch bereit gewesen zum Risiko und hätten keine Angst mehr gehabt. "Die hatten wir zu lange." - Nun nicht mehr. Zuviel Druck formt Nischenprotest und schwelende Konflikte zu offenem Widerstand um. Vielleicht ist das überhaupt die 89-Erfahrung: Angstfreie Bürger sind das Veränderungspotential jeder Gesellschaft.Die Dynamik dieses Prozesses ist im Film eingebettet in die Geschichte der Gethsemanekirche. Eine 110 Jahre alte Geschichte, zu der sowohl Armut und Reichtum der Kaiserzeit als auch der Terror des NS-Regimes gehören. Und immer wieder Menschengeschichten: Zum Beispiel vom Protest gegen die Fälschung der DDR-Kommunalwahlen im Mai 1989. Vom Kontakttelefon, um Informationen über Hungerstreiks, Repressionen und Protesten aus der gesamten DDR zu sammeln. Von Fürbitten der Kirche und Mahnwachen politischer Gruppen für Verhaftete. Am 7. Oktober 1989 ist die Kirche ein hochpolitischer Ort. Die Gegenwelt zum 40. Republikgeburtstag mit Militärparade und Volksfesten. Auf dem Alexanderplatz formiert sich ein Protestzug und zieht zum Palast der Republik. Dort feiern die selbsternannten Herren des Landes sich und ihre brüchige Herrschaft. Auf der Straße sagt das Volk Nein dazu und stellt unmissverständlich fest "Wir sind das Volk". Der Anspruch wird zurück gedrängt. Kerzen und Aufrufe zur Gewaltfreiheit an der Gethsemanekirche. Polizei, Kampfgruppen und Staatssicherheit gehen mit Wasserwerfern und Knüppeln vor. Hunderte werden verhaftet - "Zuführungen" ins Gefängnis Rummelsburg, nach Weißensee und sonst wo.In diesen Nächten demonstriert der Staat zuschlagende Härte gegen seine Bürger und glaubt, so den schwer angeschlagenen Sozialismus zu retten, schikaniert Menschen, die eine andere DDR wollen und verliert damit den letzten Rest seines Anspruchs als gesellschaftliche Alternative. Noch im Oktober wird eine Untersuchungskommission die Berichte der Zugeführten dokumentieren. Schilderungen des brutalen Vorgehens vielleicht auch überforderter Polizisten, von Verhafteten, die in LKW zusammen gepfercht sind und die "Internationale" singen, von stundenlangem Stehen in Fliegerposition, von einer unsäglich verwahrlosten Sprache der Bewacher, vom Telefonverbot, so dass wartende Kinder oder Eltern nicht verständigt werden können, von endlich genehmigten Toilettenbesuchen unter Aufsicht, von Hohn und Häme und Hieben bei Hunger, Durst und Müdigkeit, von "Häschen-hüpf"-Übungen - eine Sammlung, die noch 15 Jahre später zu Schrecken und Scham führt. "So was habe ich als DDR-Bürger noch nie erlebt" oder "das kannte ich nur aus Berichten und Bildern aus dem Westen" geben viele Betroffene fassungslos zu Protokoll, verlangen Rehabilitierung und dass die Verantwortlichen sich verantworten müssen."Ich zeige an, weil ich meine Angst und Ohnmacht überwinden will. Ich will auch die Angst überwinden, die mir mein Vernehmer mitgab auf den Nachhauseweg, als er mich bat, nicht über die Schläge zu sprechen, für die er sich ja entschuldigt hatte" - so wie Manfred Butzmann fühlen und handeln damals viele der Zugeführten. Im Film erinnert sich der Grafiker an diese Situation. Auf der Suche nach seiner Tochter gerät er am Abend des 8. Oktober in der Nähe der Gethsemanekirche in einen Polizeieinsatz und versucht, mit Worten zu deeskalieren. "Auf mich stürzten sich mehrere Volkspolizisten, sie rissen und schlugen mich von meinem Fahrrad... Ich bekam mehrere Schläge.... Ich bat nun immerzu, dass ich noch mein Fahrrad anschließen möchte. Später erfuhr ich, dass dies "renitentes Verhalten" genannt wird, und dafür bekommt man Schläge." Er wird nach Rummelsburg transportiert. "Ich musste mich ausziehen, nackt, und wurde untersucht." Vernehmung. Butzmann unterschreibt. Nach knapp 24 Stunden kann er gehen.Es ist der 9. Oktober. In Leipzig demonstrieren 70.000 Menschen mit dem Ruf "Wir sind das Volk - keine Gewalt". Die Polizei greift nicht ein. Ende der Eiszeit.