Zum Betrüger berufen

Kino In „Corpus Christi“ gibt sich ein Ex-Sträfling als Priester aus – seine Gemeinde ist begeistert
Ausgabe 36/2020

„Beichten hilft nicht“, eröffnet der Priester seinem jungen Kollegen. Das Amt des Seelsorgers hat den alten Mann ausgezehrt. Sein Feuer ist längst erloschen; dass er zum Alkoholiker geworden ist, lässt sich kaum mehr verheimlichen. Die Pfarrei am südlichen Rand Polens ist klein und arm. Einen Organisten kann sie sich nicht leisten, die Musik kommt aus der Konserve. „Und die Gemeinde?“, fragt der Jüngere. „Das Übliche“, antwortet sein Gegenüber, „viele Leute, wenig Gläubige.“ Von der Tragödie, die sich vor einigen Jahren in dem Dorf zutrug und es seither zerreißt, erzählt er ihm nicht.

Gottverlassen ist dieser entlegene Flecken nicht. Der Glaube prägt nach wie vor die Identität der Dorfgemeinschaft. Auf ihre brennenden Fragen mag der alte Priester keine Antwort mehr kennen, aber die Sehnsucht nach religiösem Beistand ist unvermindert groß. In dieser Gemeinde wird gar ein Wunder der Erweckung stattfinden; wenngleich eines, von dem Jan Komasa mit laizistischem Abstand erzählt. Der junge Kollege, der sich die resignierte Lebensbeichte des Älteren anhört, ist in Wahrheit kein Priester auf Pilgerreise. Daniel (Bartosz Bielenia) wurde gerade aus der Jugendstrafanstalt entlassen und soll sich eigentlich im Sägewerk des Dorfs melden, um dort durch harte Arbeit wieder in die Gesellschaft eingegliedert zu werden. Der Priesterkragen, den er sich in der Dorfkirche ansteckt, sollte ursprünglich die junge Marta (Eliza Rycembel) beeindrucken, der er nach der Messe begegnet. Sie hat in ihm sofort den entlassenen Sträfling erkannt, lässt sich aber sogleich von seinem schmucken Kollar täuschen, auf den fortan auch der Priester und die Gemeindemitglieder hereinfallen.

Nach der Erschütterung, die der Film Klerus vor zwei Jahren in der polnischen Öffentlichkeit auslöste, hätte man vermuten können, dass in der katholischen Kirche Polens kein Stein mehr auf dem anderen stünde. Jede Facette der Verworfenheit, Korruption und Heuchelei schien Wojciech Smarzowskis epochale Abrechnung mit der Kurie aufgedeckt zu haben. Aber auch die Wirkung eines Blockbusters hat ihre Grenzen.

Polens Katholizismus

Corpus Christi steht in vieler Hinsicht in dessen Nachfolge, nicht als unmittelbare Replik auf den Entlarvungsfuror von Klerus, aber sehr wohl als eine Antwort auf die Frage, weshalb die Verharrungsmacht des Katholizismus in Polen so stark ist. Der immense Erfolg, den Komasas Film an den Kinokassen und bei den polnischen Filmpreisen feierte, demonstriert, wie sehr das heimische Publikum für dieses Thema brennt.

Es ist deshalb fraglich, ob es Corpus Christi als simple Hochstaplerkomödie genossen hat. Dazu nimmt Komasa das Potenzial, aus dem er komische Funken schlagen könnte, auch zu ernst. Sein Film beruht auf einer wahren Begebenheit, die jedoch freizügig in Fiktion überführt wird. Im Kern erzählt der Film von einer Berufung, hält jedoch lange in der Schwebe, ob Daniels Glaube aufrichtig ist. Eingangs könnte er eine Laune sein, aus Faszination und Opportunismus geboren. In Daniels Augen blitzt noch jene Gewaltbereitschaft auf, die ihn in die Strafanstalt brachte. Aber seine Stimme klingt hell und innig, wenn er während der Messe singt.

Daniel ist empfänglich für die Botschaft, die Pater Tomasz (Łukasz Simlat) vermitteln will. Seine Predigt soll nicht mechanisch sein, versichert er, sie müssten ihm auch nicht zuhören, sondern könnten auf den Hof gehen und dort Fußball spielen – Gott würde ihnen schon folgen. Dieser gewährende Gott birgt ein Versprechen, das Daniel gern nach seiner Entlassung eingelöst sähe. Aber kein Priesterseminar nimmt Straftäter auf. In dem kleinen Dorf ergreift er nun, nach einer kurzen Schonfrist der Skrupel, seine Chance, als der trunksüchtige Priester ins Krankenhaus kommt und vertreten werden muss. Wie überzeugend er auftreten kann, hat er schon auf der Kirchenbank entdeckt, als er Marta mit der Botschaft für sich gewann, es käme nicht darauf an, woher man kommt, sondern, wohin man geht.

Das Drehbuch erinnert ein wenig an die moralischen Verwechslungskomödien Billy Wilders, in denen ein Betrüger geistesgegenwärtig in seine Rolle hineinwächst und geläutert wird. In der Tat erweist sich Daniel in der Priesterrobe als Naturtalent. Der Scharlatan erkennt das Leid der anderen. Seine undogmatischen Predigten begeistern die Gemeinde. Die Gottesdienste werden schlagartig voller. Er entfesselt den Glauben.

Aber Daniels Energie drängt weiter. Es gebricht ihm an Demut; er erfüllt das Amt mit Aufruhr. Nicht nur der konservativen Gemeinde mutet er ungeheuer viel zu. Auch den mächtigen Bürgermeister fordert er frech heraus. Je unausweichlicher seine Entlarvung wird, desto frenetischer legt er sich ins Zeug. Bartosz Bielenia bewältigt diese Gratwanderung mit einer Waghalsigkeit, die das Drehbuch allenfalls erahnen konnte. Der Zweifel, die wütende Suche, die Daniel in seinen Predigten erfasst, sprechen die Gläubigen unvermittelt an. Er offenbart, entäußert sich vor ihnen. Bald nimmt er auch das letzte Tabu in Angriff: den Verkehrsunfall, bei dem vor Jahren sechs Jugendliche ums Leben kamen sowie ein Erwachsener, dem seither die Schuld angelastet wird. Er reißt die tiefe Wunde auf, die in der Gemeinschaft klafft – in der Hoffnung, ihr endlich den Frieden zu geben, der aus der Wahrheit entsteht.

Corpus Christi Jan Komasa Polen/Frankreich 2019, 114 Minuten

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