Zurück in Indien

Zwischen Dokumentation und Essay "John & Jane" porträtiert sechs Agenten eines indischen Call-Centers

Am Anfang steht Amerika, fern und unzugänglich und doch nur einen Anruf weit weg: Yellow cabs, die Lichter einer nächtlichen Metropole, Schaufenster, mutmaßlich in New York. Schnitt, Auftritt Glen. Der Mittzwanziger und passionierte Kiffer arbeitet in einem jener gesichtslosen Großraumbüros, die so oder ähnlich überall auf der Welt stehen könnten: vier parallele Reihen langer Schreibtische, darauf in regelmäßigen Abständen Trennwände und Computer. Als einzige Besonderheit hängt unweit von Glens Arbeitsnische ein weißes Ortsschild von der Decke mit der Aufschrift "New York". Glen arbeitet in der indischen Boom-Town Mumbai/Bombay als Call-Center-Agent, und ist im so genannten Inbound-Bereich zuständig für Anfragen aus der Stadt der Lichter. Während wir Glen telefonieren sehen, hören wir ihn aus dem Off seinen Job kommentieren, jedes dritte Wort heißt "fuck". Modeln für Versace, das würde ihm gefallen.

Glen ist einer von sechs indischen Call-Center-Beschäftigten, die Regisseur Ashim Ahluwalia in seiner Dokumentation John Jane - der Titel verweist auf die US-Pendants zu "Herrn und Frau Mustermann" - zu Wort kommen lässt. Ahluwalia verzichtet dabei völlig auf Kommentare oder Bewertungen, die Aufnahmen aus dem Alltags- und Berufsleben seiner Protagonisten unterbricht er einzig mit stimmungsvollen, nahezu lyrischen Sequenzen aus der Metropole Mumbai. Über durchschnittliche Arbeitszeiten, Löhne oder die Bedeutung des Call-Center-Sektors für die indische Wirtschaft (s. Freitag 6/06) erfahren wir in John Jane nichts. Vielmehr besticht der Film durch intime (aber nicht voyeuristische) Einblicke in das Leben seiner Hauptfiguren, in ihre Wünsche und Träume, aber auch in ihre alltäglichen Frustrationen. Arbeiten im Call-Center bedeutet für die sechs Agents jeweils etwas grundverschiedenes.

Sydney zum Beispiel bekennt, ihm gehe es vor allem ums Geld, ansonsten könne er seinem Job wenig abgewinnen. Die Frustration steht ihm ins Gesicht geschrieben, während er mit antrainiertem amerikanischen Akzent über das Wetter in den fernen USA plaudert und nur Absagen erntet bei seinem Versuch, medizinische Dienstleistungen zu verkaufen. "Nach der Nachtschicht bin ich zurück in Indien", kommentiert er. Allerdings nur in einem kleinen Teil, der Job frisst auch den verbleibenden Tag: "Ich treffe nur Leute von der Arbeit". Noch während der Dreharbeiten zieht Sydney die Notbremse: Er kündigt und sattelt auf professionellen Tanz um.

Ganz anders Osmond: "It´s not over until I won" prangt leitmotivisch auf seiner Wand. Der sympathisch wirkende, kräftige junge Mann legt ein Elvis-Tape ein und gibt zum Besten, er möge den King of Pop aus einem Grund: "Er war Milliardär". So weit will es Osmond auch bringen. Das sei allerdings nur in den USA möglich, in die Osmond baldigst emigrieren möchte. Im Film zelebriert er förmlich jene Technologien des Selbst, die seinen Traum erst möglich machen sollen - sein Tagesablauf ist bis auf die Viertelstunde genau in einem Stundenplan an seiner Wand fixiert: Kochen, Duschen, Netzwerke knüpfen. Das Call-Center habe ihm geholfen, Struktur in sein Leben zu bringen.

Amerika bildet quasi die Meta-Erzählung des Films: In wiederkehrenden Sequenzen sehen wir die Call-Center-Agents einem Landeskundeunterricht folgen, der weniger Wissen über die USA vermittelt, als Narrative erzeugt. Nicholas etwa war noch nie in den Staaten, ist aber geradezu vernarrt in das Land. Die Amerikaner seien so großartig - "Ich möchte kein Inder mehr sein".


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