Die bei sommerlichen Rekordtemperaturen hitzig diskutierte Klimakrise lässt in der breiten Bevölkerung das Bewusstsein wachsen, dass die CO₂-arme Bahn eine zentrale Rolle in der Verkehrswende spielen muss. Befeuert wird die Debatte durch den in Schweden geprägten Begriff der „Flugscham“. Die Forderung nach einem nachhaltigen Investitionsprogramm in die Schiene ist jedoch keineswegs ein Wetterphänomen: Bereits 2006 gründeten Gewerkschaften, Fahrgastverbände und linke Gruppen wie Attac vor dem Hintergrund der Bahnprivatisierung, des Schienenrückbaus und steigender Pkw-Zahlen das zivilgesellschaftliche Bündnis „Bahn für alle“. Schon 2009 schlugen sie zur Verkehrswende ein umfassendes Investitionsprogramm in die Schiene vor.
Rückkehr der Nachtzüge
Nun, zehn Jahre später, haben also auch fünf Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/Die Grünen Reformvorschläge für die Bahn vorgelegt. In dem Papier mit dem Titel „Kurzstreckenflüge Zug um Zug auf die Schiene verlagern“ fordern die Politiker um Daniela Wagner, die DB AG bis 2035 nicht nur auf allen innerdeutschen Strecken „zur schnelleren, komfortableren und günstigeren Alternative (zu) machen“, sondern auch im näheren grenzüberschreitenden Verkehr. Die Pünktlichkeit soll erhöht, die Bahnangebote in den Abend- und Morgenstunden ausgeweitet und der flächendeckende Ausbau stabiler Mobilfunk- und W-Lan-Verbindungen an Bord umgesetzt werden. Auch zu einer Rückkehr der eingestellten Nachtzüge soll es kommen. Und um den Verlagerungseffekt tatsächlich zu erreichen, soll nach dem Willen des grünen Quintetts nicht nur die Umsatzsteuer von 19 Prozent für den innerdeutschen Streckenanteil internationaler Flüge gelten, sondern auch eine europäische Kerosinsteuer für EU-weite Flüge eingeführt werden. Gleichzeitig soll der schienengebundene Fernverkehr nur noch mit dem ermäßigten Mehrwertsteuersatz von sieben Prozent belegt werden. Unter dem Druck des Grünen-Hochs ließ sich selbst der bayrische Ministerpräsident Markus Söder vom Reformeifer anstecken – und schlug die vollständige Befreiung der Bahntickets von der Mehrwertsteuer vor.
Sämtliche dieser Vorschläge werden seit Jahren von „Bahn für alle“ formuliert, von nahezu allen Verkehrspolitikern akzeptiert und von DB-Vorständen postuliert. Die entscheidende Frage bleibt nach wie vor offen: Wie kann es sein, dass der Bund als Alleineigentümer des Unternehmens nicht längst den verkehrspolitischen Vorgaben in Richtung Klimaschutz gefolgt ist? Viele der Maßnahmen ließen sich sofort umsetzen – etwa die genannte Verbilligung der Fahrscheine, die den Wettbewerbsnachteil der Bahn gegenüber Low-Cost-Airlines wie Ryanair, Eurowings und EasyJet zumindest auf innerdeutschen Strecken mit sofortiger Wirkung abmildern würde.
Stuttgart 21 zerstört Chancen
Um sicherzustellen, dass nicht weiterhin nur 70 Prozent der Fernzüge pünktlich in die Bahnhöfe einlaufen, könnte zudem rasch mit der Ausbildung von Lokführerinnen, der Einstellung von Zugbegleitern und der personellen Aufstockung von Ausbesserungswerken begonnen werden.
Die Reaktivierung der Trassen und der Wiederaufbau der industriellen Gleisanschlüsse wird allerdings mehr Zeit in Anspruch nehmen. Insgesamt wurde das Schienennetz seit 1994 um 17 Prozent reduziert, was rund 5.400 Kilometern entspricht. Die Zahl der Weichen wurde zulasten eines möglichst flexiblen Bahnverkehrs nahezu halbiert. Im selben Zeitraum wurden mehr als vier Fünftel der 11.742 industriellen Gleisanschlüsse gekappt. Angesichts dieses rekordverdächtigen Kahlschlags, der insbesondere unter Ex-Bahn-Chef Hartmut Mehdorn die Kapitalmarktfähigkeit der DB AG durch eine Liquidierung des Anlagevermögens sicherstellen sollte, kann der Niedergang der Bahn nicht verwundern. Der von „Bahn für alle“ geforderte Ausbau des europäischen Schienennetzes um 35.000 Kilometer entspräche dem Stand von 1970.
Investitionen in die Bahn setzen jedoch auch voraus, dass die Gelder nicht länger in gigantomanische Bauprojekte wie „Stuttgart 21“ fließen, für das der DB-Vorstand jüngst die Risikoreserve in Höhe von 495 Millionen Euro freigab, um die seit dem Baubeginn im Jahre 2010 verdreifachten Kosten zu decken. Die milliardenschweren Mittelabflüsse stehen in keinem Verhältnis zu den wenigen Minuten Fahrzeitgewinn auf den betroffenen Strecken. Mit fatalen Folgen für den Personen- und Güterverkehr zwischen Flensburg und Garmisch-Partenkirchen.
Auch die Kritik am Mehrwertsteuersatz auf Fernverkehrstickets ist übrigens nicht neu. Schon 2002 war dessen Halbierung in der rot-grünen Koalitionsvereinbarung noch in Aussicht gestellt, zwei Jahre später erklärte das Bundesverkehrsministerium jedoch, „wegen der hohen Staatsverschuldung und der notwendigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte“ sei die Umsetzung dieses Koalitionsziels „derzeit nicht beabsichtigt“. Doch warum sollte gerade die Bahn als umweltfreundlichster Verkehrsträger nach dem Fahrrad einen umfänglichen Beitrag zur Konsolidierung der chronisch unterfinanzierten Haushalte leisten? Könnten dies nicht die vielfach massiv subventionierten Flughäfen tun? Warum zieht man nicht die Einnahmen aus der Kfz-Steuer heran? Stattdessen wurde die jahrelange Benachteiligung der Bahn im intermodalen Wettbewerb mit der zum 1. Januar 2007 um drei Prozentpunkte erhöhten Umsatzsteuer verschärft.
Es geht also nicht einfach um mehr Investitionen in die Bahn; die Bahnpolitik der vergangenen Jahrzehnte muss die Richtung wechseln. Statt vermeintlich prestigeträchtiger Großprojekte braucht es eine intelligente Vernetzung von Nah- und Fernverkehr, eine engere Taktung des Fahrplans sowie einen Ausbau der Bahninfrastruktur im ländlichen Raum. Wie sich das verkehrswissenschaftliche Gesetz „Angebot schafft Nachfrage“ umsetzen lässt, zeigen die Schweizerischen Bundesbahnen. Im Einklang mit regelmäßig stattfindenden Volksabstimmungen wurden und werden Zugflotten modernisiert, Trassenengpässe behoben, Fahrpreise niedrig gehalten und Teilsysteme des öffentlichen Verkehrs engmaschig vernetzt. Während Deutschland im vergangenen Jahr nur 77 Euro pro Kopf in das Schienennetz steckte, wandten Österreich und die Schweiz trotz modernerer Infrastrukturnetze eine zwei- bis dreimal höhere Summe auf.
Als hiesiger Hoffnungsträger im Konzert der allzu häufig wenig versierten Verkehrspolitiker kann Richard Lutz gelten, seit 2017 Vorsitzender der Deutschen Bahn AG. Während seine Vorgänger Heinz Dürr, Hartmut Mehdorn und Rüdiger Grube ihre prägende berufliche Sozialisation in der Automobilindustrie durchliefen, entstammt Lutz nicht nur einer Eisenbahnerfamilie, sondern blickt auch selbst auf eine lange DB-Karriere zurück. Vielleicht sollte künftig er die Verkehrspolitiker in den Bahntower einbestellen, bevor Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer wieder den DB-Vorstand zum Rapport bittet. Der bislang ebenso wie seine Amtsvorgänger blass agierende CSU-Politiker scheint nicht zu erkennen, dass die DB AG nur dann Fracht- und Fahrgastzuwächse verzeichnen kann, wenn der Bund als Alleineigentümer ausreichend Geld für Investitionen in den heimischen Schienenverkehr zur Verfügung stellt. Die vergangene Woche für einen Zeitraum von zehn Jahren zugesagten 86 Milliarden Euro für die Instandsetzung von Gleisen, Brücken und Bahnhöfen sind indes kein hoffnungsvolles Signal.
Jenseits von Investitionsfragen stellt sich in der Klimakrise die Organisationsfrage neu: Eine „schlanke“, gewinnorientierte Börsen-AG ist keine adäquate Rechtsform für ein zentrales, ressourcenschonendes Verkehrsmittel – eine ausreichend steuerfinanzierte Bürgerbahn könnte es werden.
Kommentare 11
Beim geforderten "Zack Zack" kommen mir doch einige Zweifel. Denn bei aller liebe zur Bahn, die ich ebenfalls ausschließlich nutze, ist ein schnelles und unbesonnenes "Zack Zack" in meinen Augen kein gutes Mittel zum Zweck.
Da ich selber neben einem Bahnhof wohne - und nein, einfach Umziehen geht nicht und 'nein', ich habe mir das nicht unbedingt ausgesucht - weiß ich, das Züge eine Teils höhere Lärmemission aufweisen, als es die in der nähe gelegene Autobahn hat. Selbst die LKWs und der Pendlerverkehr der in einem fast schon sonoren Ton in oder aus dem Ort ausfährt (ja, ich wohne auch noch neben einer gut befahrenen Straße), ist nichts im Vergleich zu einem stehenden Zug, der seinen Motor über Minuten laufen lässt, weil er auf irgend eine Weichenstellung, einen vorbei fahrenden Zug oder eben auf das Ein- und Aussteigen der Fahrgäste wartet. Offene Fenster in Begleitung von Musik, Radio oder Fernsehen ist nicht möglich, da die Züge die Geräusche übertönen. Sitzt man auf dem Balkon, versteht man sein eigenes Wort nicht mehr.
Nachtzüge schön und gut. Aber wenn ich daran denke, dass ich doch des öfteren Nachts vom Güterverkehr aus dem Schlaf gerissen werde, stelle ich mir das für Anwohner die auf sehr hoch frequentierten Strecken wohnen noch schlimmer vor. Auch wenn Ohrstöpsel einiges abmildern. Einen 'Lärmwall' wie an Autobahnen habe ich bisher nur auf sehr, sehr, sehr wenigen Strecken gesehen. Was ist also mit den Anwohnern, die direkt neben den Gleisen wohnen, ob gewollt (weil günstig) oder ungewollt (weil das Haus schon vorher da war). Das vermisse ich als Punkt den man bedenken sollte.
Ein weiter Punkt ist die Streckeninstandhaltung. Die Bahn ist als alleiniger Großabnehmer für Glyphosphat mit 67 Tonnen im Jahr 2017 nicht unbedingt das, was man von "Umweltfreundlich" erwartet. In meiner Nähe gibt es sogar den Verdacht, dass die Bahn selbst im Wasserschutzgebiet ihre Gleise damit besprüht hat. Inflagranti erwischt wurde leider bisher niemand - auch weil die Bahn ihre "sprühzüge" nicht kenntlich macht - aber die Bodenwerte um die Gleise (auch noch sehr viele 100 Meter weiter weg) weisen eine hohe Belastung mit Glyphosphat auf. Dies ist sicherlich kein Einzelfall und da Deutschland nunmal unglaublich dicht besiedelt ist, die Strecken auch Teilweise durch Wasser- und Naturschutzgebiete verlaufen, möchte ich mir die gesundheitlichen Folgen für den Mensch und die Folgen für die Natur gar nicht ausmalen. Warum wird darüber nicht auch mal Debattiert? Denn sollte es wirklich zu einem Ausbau der Strecken kommen, wird auch eine erhöhung der Glyphosphat abnahme entstehen.
Ich pläderie nicht für das Auto. Aber für eine besonnene Umstellung, die auch solche Faktoren mit einbezieht, da ist ein "Zack Zack" fehl am Platz.
Hahaha, ja, da hast du recht!
Natürlich Hast du recht: das Gemeinwohl wiegt sicherlich höher. Jedoch, was augenscheinlich eine individuelle Befindlichkeit ist, wird durch den Faktor: Lärm= Stress zu einem gesellschaftlichen. Übermüdung und ständige Gereiztheit wegen Lärmbelästigung wirkt sich eben auch auf eine Gesellschaft aus. Wenn es gute Kompromisse sind, dann sehe ich jedoch kein Problem darin.
Nun, ich bin mir beim Ausbau des Netztes nicht immer so sicher, ob es Sinn macht Trassen in Wälder zu schneiden. Auch die Windenergie ist jetzt in meinen Augen nicht so dolle, der ästhetische Faktor der ebenfalls für das Indivium und die Gruppe wichtig ist (weil Erholung, Wald, Stressreduktion) finde ich durchaus nachvollziehbar. Ich möchte auch keinen Windpark vor meiner Nase haben. Und bin mir sicher, dazu gibt es gute Alternativen. (Mal so als Beispiel)
>>…das Züge eine Teils höhere Lärmemission aufweisen, als es die in der nähe gelegene Autobahn hat.<<
In die Geräuschdämpfung von Strassenfahrzeugen wurde in den vergangenen Jahrzehnten mehr investiert als in die Aussengeräuschdämpfung von Bahnen. Das geht nur sehr langsam voran.
Herbizide bei der Bahn sind durchaus ein Thema. Eine Lösung wäre, die Schienen nicht mehr auf Schotter, sondern auf einem Betonsockel zu verlegen, wie das bis jetzt nur bei Hochgeschwindigkeitsstrecken üblich ist.
Es kommt eben darauf an wieviel man investieren will. Bei der Bahn war und ist das im Vergleich zu den massiven Investitionen für den Strassenverkehr* immer noch sehr wenig. Ausserdem wird, wie oben schon geschrieben, das vorhandenen knappe Geld in milliardenfressende Einzelprojekte mit geringem verkehrstechnischem Nutzen verheizt.
*vor Allem in den 1950er -70er Jahren: rascher Ausbau des Autobahn- und Bundesstrassennetzes und „autogerechter“ Umbau der Städte.
Es könnte so einfach sein: Zurück zur Pferdekutsche. Zack, Zack!
Vielleicht ist zack-zack ein bißchen zu zackig, aber richtig ist, ein Massenbedürfnis sollte nicht individualistisch bedient werden, jenseits aller anderen Überlegungen. Das ist die kapitalistisch falsche Form.
Nur die Aufklärung schafft Klarheit!
Wir brauchen eine sozial-ökonomische und sozial-ökologische hochqualitative Kreislaufwirtschaft auf der Grundlage des Gemeineigentums an gesellschaftlichen Produktions- und Reproduktionsmitteln! Dafür müssten wir schon die kapitalistisch-imperialistische Gesellschaftsformation nachhaltig beseitigen!
Ohne Beseitigung des Kapitalismus, so auch in Deutschland und in ganz Europa, Japan, Indien, China und Amerika, gibt es auch keinen Umweltschutz und auch keinen ''Klimaschutz''!
- ungeschminkt.
07.08.2019, R.S.
Und, um es auf das hier diskutierte Thema zu beziehen: Sehr geldmächtige Kaputtalisten sind die Automobilkonzerne. Die Regierung wird von ihren Lobbyisten geführt.
Besässe ich ein grosses Paket an Automobil-Aktien, dann würde ich auch Staatsknete für die Elektrifizierung des Strassenverkehrs propagieren und die Bahn am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Desgleichen, wenn ich einen gutdotierten Lobbyauftrag von diesen Konzernen oder ihrem Verband hätte.
Ein wichtiges Argument für den Schienenverkehr ist der im Vergleich zur Strasse geringere Energieverbrauch pro Personen-/Tonnenkilometer. Das wird in Diskussionen allzu oft verschwiegen, warum?
die jahre-lange "betreuung" der bahn durch potente fränkische csu-minister
hat den schienen-verkehr zu einem höhepunkt der lust-losigkeit ge-fü(h)rt(h).
"Bekanntlich" steige der Energieverbrauch exponentiell mit der Geschwindigkeit -- nein, tut er nicht, sonst würde ein stehender Zug einen positiven Verbrauch haben. Seit mit Werdermann der letzte naturwissenschaftlich Interessierte weg ist, gibt es niemanden mehr, dem solche offensichtlichen Klöpse auffallen würden, was der journalistischen Begleitung der Pandemie oder des Klimawandels gar nicht gut tut. Schade, da ich das Anliegen des Autors sonst uneingeschränkt unterstütze. Will über Nacht nach Madrid und Kiew.
Ugh, falscher Artikelbezug, meinte den von Bernhard Knierim, den mir die Suchmaschine allerdings nicht geliefert hat. Bitte Kommentar löschen.