Zwei Könige im Wind

MAROKKO Drei Monate, nachdem Mohammed VI. den Thron bestiegen hat, ist der verstorbene Hassan II. noch allgegenwärtig

Der König trinkt Tee. Am Nagel neben dem goldgerahmten Foto baumelt ein Kalender mit Alpenbildern, die Blätter mit dem Datum von 1998 sind schon ganz vergilbt. Darunter werden Orangen ausgepresst und Hamburger gegrillt. Casa blanca um die Mittagszeit. Die jungen Leute kommen aus ihren Büros, brauchen schnell etwas zu essen, da kümmert sich niemand um den König. Ein Bild des Staatschefs gehört in der arabischen Welt nun einmal zur Ausstattung jeder Amtsstube, jedes Geschäfts und natürlich auch jeder Imbissstube. Doch komisch ist es schon: Denn an der Wand hängt noch immer ein Bild von Hassan II., des am 23. Juli verstorbenen Königs von Marokko. Ihr habt doch einen neuen König, einen jungen und gutaussehenden noch dazu - wieso hängt ihr sein Bild nicht auf? "Das eilt doch nicht - Hassan hat uns 38 Jahre lang regiert. Sein Sohn wird ja sicher auch viele Jahre König von Marokko bleiben, da haben wir noch reichlich Zeit, neue Bilder aufzuhängen", sagt der Chef und rettet dann einen Fleischklops vor dem Verbrennen. "Ausserdem gehört das Bild irgendwie dazu", ergänzt er anschliessend. "Ich kann mir ein Leben ohne den König, also den alten König, gar nicht vorstellen und ich fürchte, es wird auch keinen so grossen Unterschied machen, ob Hassan II. oder Mohammed VI. uns regiert". Man wartet ab. Skeptisch, ob der neue König dem Land die dringend notwendigen Reformen bringen will und ob er dies überhaupt könnte, wenn er wollte.

Zwar hatte Mohammed VI. in seiner Thronrede Ende Juli angekündigt, er werde sich stärker für die Armen einsetzen, das Erziehungssystem reformieren und für die Rechte der Frauen kämpfen. Die Demokratisierung "von oben", die sein Vater vor gut eineinhalb Jahren einleitete, als er den damaligen Chef der sozialistischen Opposition Abderrahmane Youssoufi zum Premierminister ernannte, will der Sohn fortsetzen. Der junge König ließ darüber hinaus erkennen, dass er Spanien als Vorbild für Marokko betrachte. Der Begriff "konstitutionelle Monarchie", mit der sich ein König aus dem Alltagsgeschäft zurückziehen kann, tauchte in der Presse auf. Hört sich gut an, doch der Königspalast schweigt.

Für die Ulema, die religiösen Würdenträger des Landes, sei vor allem das Ansprechen der Frauenfrage ein Tabu-Bruch, heißt es, sie hätten dem König gedroht, ihm ihre Unterstützug zu entziehen. Zudem schränke die ökonomische Situation die Handlungsfähigkeit der Regierung ein.

Zwei Könige flattern im Wind: "Ich habe keine allzu grosse Hoffnungen, dass mit dem neuen König auch eine neue Politik kommt", sagt Abdel Majid. "Aber warten wir es ab!" - und warten, das kann er. Schliesslich gehört Abdel zu einer Gruppe von 240 Hochschulabsolventen, die seit knapp einem Jahr vor dem Parlamentsgebäude in Rabat ein Zeltlager errichtet haben: "Wir fordern unser verfassungsmäßiges Recht auf einen Arbeitsplatz", steht auf den Transparenten, die dort im Wind flattern. Abdel Majid - mit 36 genauso alt wie der junge König - hat in Paris an der Sorbonne in Geschichte promoviert, kehrte anschliessend nach Marokko zurück und wartet - seit nunmehr vier Jahren - darauf, dass er eine Stelle im Öffentlichen Dienst bekommt. Doch das ungeschriebene Versprechen, wonach jeder Hochschulabsolvent in den Staatsdienst übernommen wird, gilt schon lange nicht mehr auf. Nach inoffiziellen Zahlen finden heute mehr als 70 Prozent der Marokkander mit einer akademischen Ausbildung keine Arbeit. "Es ist schwierig, es sei denn man kommt aus der richtigen Familie", sagt eine junge Umweltingenieurin. Sie trägt Kopftuch und lässig darüber eine Baseballmütze. "Die Gefahr, dass die Polizei uns verhaftet, ist gering. Das würde der junge König nicht zulassen", sagt sie. Immerhin herrscht in Marokko ein strik tes Demonstrationsverbot, woraufhin die meuternden Hochschulabsolventen schon mehrmals aus ihren Zelten geholt wurden. "Andererseits sind wir so etwas wie das Schaufenster der Regierung: Sie zeigt, wie demokratisch sie ist, indem sie uns hier protestieren lässt", fügt ihr Mitstreiter Abdel Majid hinzu.

Das ändert an ihrer Misere allerdings so gut wie gar nichts. Möglicherweise wird sich die Lage eher noch zuspitzen, wenn im Dezember das Assoziierungsabkommen zwischen Marokko und der EU in Kraft tritt. Trotz zusätzlicher Wirtschaftshilfen wird die schrittweise Zollfreiheit für Industriegüter, die aus der Union nach Marokko exportiert werden, verheerende Folgen für die einheimische Ökonomie haben. Bis zu 60 Prozent der marokkanischen Unternehmen könnten den Konkurrenzdruck nicht gewachsen sein, besagt eine Studie des Industrieministeriums in Rabat. Die Verwaltung soll schlanker und effizienter, das Land so auf die verstärkte Kooperation mit Europa vorbereitet werden, so jedenfalls steht es im Programm der Regierung Youssoufi.

Dem Zeltcamp gegenüber renommiert eine Galerie mit der königlichen Familie. Hier gibt es Bilder aller Prinzen, Prinzessinnen und natürlich auch des alten und des neuen Königs. Auch hier wartet man. Zwar kommen reichlich Neugierige, die Bilder Mohammed VI. anzuschauen, doch gekauft wird wenig. "Bisher hat der König noch nicht bekanntgegeben, welches das offizielle Photo von ihm sein wird. Deswegen zögern die Leute, sie wollen nicht das falsche kaufen", erklärt die Verkäuferin in der Galerie. Dabei gilt die Pflicht, ein Königsbild zu zeigen, nur für die Amtsstuben und öffentlichen Gebäude. Kaufleute, Restaurantbesitzer können sich eines der Bilder aussuchen. Den König beim Teetrinken für die Teestube, den König beim Telefonieren für den Handy-Shop.

"Ich glaube, der neue König ist einfach anders", schwärmt eine junge Frau und deutet auf das Bild über ihr: Mohammed VI. mit Drei-Tage-Bart und modischem Anzug winkt seinem Volk. "Er ist modern und will bestimmt nicht mit diesem Bilderkult fortfahren: Marokko wird das erste arabische Land sein, in dem der Landesherr nicht an jeder Wand hängt. Mohammed VI. hat das gar nicht nötig", sagt sie oder hofft sie. - "Träum' weiter", sagt ein junger Mann, der auf der Strasse vor der Galerie Uhren verkauft. "Irgendwann wird der König merken, dass er Geld braucht - dann wird er anordnen, dass alle Geschäftsbesitzer seine Bilder kaufen müssen." Immerhin kostet ein Bild des Königs umgerechnet knapp 40 Mark. Auch das ein Grund, noch ein wenig zu warten, bevor man umdekoriert. "Oder er packt den Knüppel aus und lässt zum Beispiel die jungen Leute da räumen." Er deutet auf die Zeltstadt: "Dann werden am nächsten Tag alle sein Bild aufhängen - aus Angst".

Zweifellos hat mit Mohammed VI. in Marokko eine neue Zeit begonnen - aber bisher weiss niemand so genau, welche.

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