Zweimal Marthaler in Paris

Bühne Ein Alptraum lastet von Beginn an auf Christoph Marthalers Pariser Wozzeck-Inszenierung. Es ist der Horror unserer Zeit, den Marthaler in ...

Ein Alptraum lastet von Beginn an auf Christoph Marthalers Pariser Wozzeck-Inszenierung. Es ist der Horror unserer Zeit, den Marthaler in minimalistischer Regie auf die Bühne der Opéra Bastille bringt. Die große Soldatenkantine, die Anna Viebrock entworfen hat, ist umgeben von trostlos-bunten Geräten der Kindervergnügungen. Rutschen, Schaukel, Trampoline und riesige Hüpfburgen sollen die Kinder bei ihren Spielen und Späßen nicht die Härte der sozialen Realität spüren lassen.

Ins Zentrum der Inszenierung von Alban Bergs Oper Wozzeck rücken Marthaler und der Dramaturg Malte Ubenauf die ökonomischen Verhältnisse. Der Druck ist so stark, dass Wozzeck ohne Unterlass seiner Arbeit nachgeht. Eine Unruhe hat seinen Körper (Simon Keenlyside) erfasst. Voller Angst erkennt der einfache Soldat, dass er seine Welt nicht mehr zusammen halten kann. Er hat dem Körper einen brutalen Arbeitsrhythmus antrainiert. Seine Handgriffe sind von einer zwangsneurotischen Akkuratesse. Doch je mehr Wozzeck versucht, Ordnung zu schaffen, desto mehr entgleitet ihm die Kontrolle über Menschen und Dinge. Marie und Wozzeck verlieren sich aus den Augen, der anstrengende Alltag mit den ständigen Demütigungen lässt diesen "armen Leut´" keine Zeit, um zur Ruhe zu kommen.

Die Autoritätspersonen, Hauptmann (Gerhard Siegel) und Doktor (Roland Bracht), sind in sich zusammen gesunkene Fleischberge, die Schwermut vernichtet hat. Wenn sie mit Wozzeck in Kontakt treten, ist es, als würden sie aus einer fernen, bereits untergegangenen Welt ihre Anordnungen und Bemerkungen von sich geben.

Und Marie (Angela Denoke) fühlt sich von der rohen Kraft des Tambourmajors (Jon Villars) angezogen, der sie nimmt und dabei mit seinen Händen nach der Frau greift, die neben ihm sitzt. Wozzeck sieht diese Szene, wendet seine sich ab und verstohlen wieder hin. Er kann sich nicht gegen die Stimmen wehren, die in seinem Kopf toben. Es treibt zum Mord an Marie, in den Untergang.

Im ersten Akt toben die Kinder in den Spielburgen. Wir sehen ihnen durch Plastikplanen bei ihrem Treiben zu, doch wir hören sie nicht. Im Finale haben die Erwachsenen den Innenraum verlassen. Nun sitzen die Kinder an ihren Plätzen. Sie sitzen dort wie in Schulbänken, wie die Puppen in Tadeusz Kantors Toter Klasse (1975). Die Kinder bewegen sich nicht. Mariens und Wozzecks Knabe steht genau an derselben Stelle an der Wand, an der auch Wozzeck stand und seinen Kopf hängen ließ. Die Kinder singen, Marie sei tot. Mit einem Ruck drehen sie ihren Kopf und starren den isolierten Sohn an. Das Licht wird dabei schmerzend hell. Die Kinder sind vor der Zeit gealtert. Und allein.

In Marthalers bewegender Inszenierung und durch Sylvain Cambrelings auf die Einsamkeit hinführendes Dirigat ist eine tiefe Angst über die Kluft zwischen den Generationen zu spüren. Die Erwachsenen stoßen die Kinder in eine Welt, die kalt und leer ist, und kümmern sich nicht weiter um sie.

Gérard Mortier, dem Operndirektor, ist es zu verdanken, dass sich die Hochkultur nicht mehr nur im Zentrum von Paris abspielt. Für die Wiederaufnahme von Marthalers Les Noces de Figaro wurde das Théâtre Nanterre-Amandiers gewählt, um so andere Publikumsschichten als die betuchte Bourgeoisie zu gewinnen. Das Projekt nennt Mortier "L´Opéra et le Ballet hors les Murs". Für "Mozart en banlieue" wurde die 2001 bei den Salzburger Festspielen gezeigte Inszenierung wieder aufgenommen, die vor zwei Jahren bei der Aufführung im Palais Garnier von den Mozart-Tradionalisten ausgebuht worden war. Marthaler zeigt in Les Noces de Figaro, wiederum von Cambreling dirigiert, dieses Mal mit dem Orchestre des Lauréats du Converservatoire, dass die Grausamkeit des Grafen auf die Bedürfnisse der nächsten Generation keine Rücksicht nimmt. Der Figaro (Luca Pisaroni) und Susanna (Camilla Tilling) müssen so unter das Joch der Ehe gespannt werden, wie der Graf Almaviva (Stephane Degout) es sich wünscht. Am Ende leuchtet zwar in großen Lettern das Wort "Mariage" auf, aber unter den Protagonisten stellt sich keine Freude ein. Jürg Kienberger, eine hinzuerfundene Figur, hat sich am Ende in den oberen Teil der Zwei-Etagen-Bühne von Anna Viebrock zurückgezogen, wo er auch am Beginn der vierstündigen Inszenierung wie ein fahles Gespenst gehaust hat. In dem kahlen Raum muten ausgestopfte Bergtiere wie die Erinnerung an die animalische Natur an.

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