Zweimal Walser (Robert), einmal Faust(kampf)

Sachlich richtig Erhard Schütz lässt sich vom miesepetrigen Morgenstern nicht beirren und bestaunt Musil beim literarischen Boxkampf
Ausgabe 17/2018
Robert Walser (1878-1956) ist ohne Zweifel der sauberste, modernste Autor Berlins
Robert Walser (1878-1956) ist ohne Zweifel der sauberste, modernste Autor Berlins

Foto: Picture Alliance/dpa

Ein ordentlicher Mensch hat Zwiespälte und Widersprüche, gemischte Gefühle und wandelbare Launen. Sowohl als auch; weder noch; teils, teils oder je nachdem: Ambivalenzen. Die sind eher Normalausstattung, es sei denn, man wolle als Zwangscharakter, AfDlerin, Stalinist oder Islamistin unbedingt in Einseitigkeit erstarren. Wenn man nun einem Autor wie Robert Walser Ambivalenz attestiert, dann klingt das wie Eulen nach Athen und Feuerwaffen nach USA zugleich. Der Begriff wirke, schreibt Peter Utz, wie ein „Hubstapler, mit dem man zwar Begriffspaletten auftürmen oder verschieben, aber keine Wortstecknadeln aufheben kann“. Doch zeigt der Virtuose der Walser-Deutung: Es kann nützlich sein, einen geläufigen Begriff einmal exemplarisch systematisch anzusehen. Im Doppelblick: auf den Begriff, der 1910 in der Schweiz das Licht der wissenschaftlichen Welt erblickte, wie auf Walsers diverse Verfahren. Geradezu polyvalent: die Paarung von Geschwätzigkeit und Sprachscham, die Benjamin bemerkte, Komplimentieren als Frechheit, Heldenschmäh als Selbsterheldung, aufdringliche Dezenz, Unterwerfung als Beherrschung, das Schweifende und das Pointierte, das Umschreiben und Um-Schreiben, oder das „Zweibedeutige“, das Reto Sorg in einem schönen Aufsatz entfaltet. Man wird von Altmeistern und Novizinnen der Walserei an die Hand genommen und zu ihm verführt.

Dazu passt, dass in der Kritischen Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte die der Neuen Rundschau dran sind, Veröffentlichungen zwischen 1903 und 1914, Berlinalia. „Nein, ich könnte nirgends anderswo fest wohnen als in Berlin.“ Denn: „Berlin ist allen übrigen deutschen Städten eben einmal voran in allen Dingen. Es ist die sauberste, modernste Stadt der Welt.“ – ließ er 1909 den Papa der Kleinen Berlinerin sagen. Vier Jahre später ging er doch in die Schweiz zurück, von wo aus er unter anderem das geniale „Stückli“ übers Spazieren lieferte. Feine Feuilletons, die er noch von Berlin aus schrieb, sei es über den Markt, sei es über eine Ballonfahrt, über einen Park oder einen Dinnerabend: Abgebildet ist ein Eintrag ins Gästebuch des Verlegers Samuel Fischer: erst die renommierten Damen Gabriele Reuter und Helene Stöcker, dann Großkritiker Otto Brahm und allerlei großmännliche Männer. Ganz unten, miniatürlich gequetscht Walser – wie er das liebte. Morgenstern neidete Walser das seinerzeitige Interesse der Neuen Rundschau: Was der sich da „zusammenkliert“, nölt er, ist „schauderhaft“. Die Leser haben’s anders entschieden. Jedenfalls haben wir da einen weiteren, der so rundum perfekt gemachten Bände der Walser-Ausgabe!

Wo heute der schmalbrüstigste Feuilletonist – aber gibt’s den, wo alle in die Muckibude gehen? – beim Smalltalk hochexpertisch über Fußball brilliert, war es in den zwanziger Jahren das Boxen, das nicht nur die Massen, sondern massenhaft Literaten begeisterte. Herren wie Brecht oder Musil nahmen ebenso Boxunterricht wie Dame Vicki Baum. Vor allem schrieben sie drüber. Trivialere, längst vergessene Autoren meist ganze Romane, Kästner wie Roth, Klabund wie Tucholsky eher Erzählungen, Feuilletons, Gedichte. Heinrich Mann ließ einen Boxer durch Die große Sache toben; in Leonhard Franks Ochsenfurter Männerquartett ging’s von der Gassenschlägerei zum Profispektakel. Boxen sickerte in die Metaphorik ein: Neusachliche Literatur, so Kurt Pinthus, sei „hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers“ gleich. Benn glorifiziert die „Muskelseele“, spottet aber auch über das „Arenageheul einer Boxerzivilisation“. Boxer sind Kraftmenschen und Körperartisten, Vorbild für Schlagkraft, Reaktion und Präzision, mal tayloristische Maschinenmenschen, mal Vorbild für individuelle Durchsetzungskraft. Boxkampf ist Lebenskampf. Zusätzlich ist man natürlich von den Zuschauermassen fasziniert, von der quasireligiös „kochenden Volksseele“. Wolfgang Paterno hat in einer mächtigen Studie das Verhältnis von Literatur und Boxen in jenen Jahren rekonstruiert, umfassend , gründlich, minutiös belegt und doch gut lesbar. Seine Champions sind zweifellos Brecht und Musil. Brecht sieht die „Ambivalenzen“ von Antibourgeoisem und Kapitalbetrieb, eine „komplexe Organisationsform des Sozialen“. Bei Musil, dem seine Exegeten gerne sportive Figur und Disziplin andichteten, wird der Mann ohne Eigenschaften zum „Daseinssportler“. Punktsieg.

Info

Robert Walsers Ambivalenzen. Kurt Lüscher, Reto Sorg, Bernd Stiegler, Peter Stocker (Hrsg.), Fink 2018, 229 S., 59 €

Drucke in der Neuen Rundschau. Kritische Ausgabe sämtlicher Drucke und Manuskripte. Robert Walser Stroemfeld / Schwabe 2017, 245 S., 78 €

Faust und Geist. Literatur und Boxen zwischen den Weltkriegen. Wolfgang Paterno Böhlau 2018, 400 S., 50 €

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