Amin Jaafari, arabischer Israeli und angesehener Chirurg in einem Krankenhaus von Tel Aviv, gerät unversehens in einen Alptraum. Er wird Zeuge eines Sprengstoffattentats, bei dem auch zahlreiche Kinder ums Leben kommen. Sein Krankenhaus liegt in der Nähe des Tatorts, stundenlang steht er im Operationssaal, hilft den Verletzten. Doch plötzlich wird er mit einer unfassbaren Tatsache konfrontiert: Die Attentäterin ist seine Frau Sihem. Amin ahnte nichts von ihrem Plan und fällt nun in die absolute Leere: "Ich erkenne die Welt, in der ich lebe, nicht wieder."
Das ist die Ausgangssituation in Yasmina Khadras jüngstem Roman Die Attentäterin; aus ihr leiten sich alle Handlungsstränge dieses wieder enorm spannungsreichen Buchs ab. Amin wird von der israelisch
on der israelischen Polizei der Mitwisserschaft beschuldigt und in einem Verhör durch die Mangel gedreht. Denn Hauptmann Moshe "will herausfinden, wie eine Frau, die von ihrem Umfeld geschätzt wird, die schön ist und intelligent, modern und gut integriert, die von ihrem Mann auf Händen getragen wird, von ihren Freundinnen, mehrheitlich Jüdinnen, vergöttert, sich von heute auf morgen mit Sprengstoff voll packen und an einen öffentlichen Ort begeben konnte, um all das in Frage zu stellen, was der Staat Israel den Arabern, die er in seinem Schoß aufgenommen hat, an Vertrauensvorschuss entgegengebracht hat."Der völlig verwirrte Amin fällt nach seiner Freilassung aus der Untersuchungshaft fast der Lynchjustiz seiner Nachbarn zum Opfer, die in ihm offenbar immer noch den Beduinensohn, den Araber, sehen. Alte Gräben brechen auf, im Krankenhaus läuft eine Intrige gegen ihn, Amin wird zur unerwünschten Person. Er zieht sich zurück und schottet sich ab, sogar gegenüber den engsten Freunden. Amin fühlt sich von seiner Frau verraten und verletzt, kann das Geschehene nicht verstehen. Als ihn ein Abschiedsbrief von Sihem erreicht, in dem sie sich zur Tat bekennt, bricht in ihm eine Welt zusammen. Mit Amin, aus dessen Perspektive erzählt wird, durchlebt man diesen emotionalen Tiefschlag, als wäre es die eigene Frau - so dramatisch, spannend und einfühlsam kann Yasmina Khadra erzählen. Dass dies nur ein weibliches Pseudonym für den ehemaligen algerischen Offizier Mohammed Moulessehoul ist, wissen spätestens seit seinem Erfolg Wovon die Wölfe träumen (Freitag 12/2003) auch die deutschen Leser.An der Person Amin exemplifiziert Khadra die ganze Tragödie des Palästina-Konflikts. Als Araber in Gaza geboren, musste er sich seinen Status als vollwertiger Bürger erst verdienen. Er, der einzige Arzt seines Stammes, hat sich immer an die Regeln gehalten und konnte so aus armen Verhältnissen in die Society von Tel Aviv aufsteigen. Bei vielen seiner Leute gilt er als Verräter in ihrem Kampf um Selbstbestimmung, als Günstling und Opportunist, bei den Israelis avancierte er zum Musterbeispiel gelungener Integration und zum Vorzeige-Araber. Doch als es hart auf hart kommt, schicken sie ihn in die Wüste zurück. Dort will er allerdings auch hin: "Ich will wissen, wer meine Frau indoktriniert hat, wer sie mit Sprengstoff gespickt und in die Arena geschickt hat".Mit seiner Kollegin Kim, die ihm dieser Zeit die verlässlichste Freundin ist, fährt er nach Bethlehem, wo Sihem den Brief an ihn aufgegeben hat. Er will die Spur wittern, die zu ihrer Entscheidung geführt hat, "dem Mistkerl ins Gesicht" sehen, "der sie um den Verstand gebracht hat". Khadra inszeniert diesen Rachefeldzug als Lernprozess in kleinen Etappen, denn Amin, der sich für den Tod seiner Frau mitverantwortlich fühlt, ist noch weit entfernt von seinem Ziel, die wahren Motive für die Tat seiner Frau zu finden. Khadra schickt Amin durch ein Labyrinth, auf Holzwege und in Sackgassen, lässt ihn suchen und irren, hoffen und verzweifeln; er quält ihn mit (unbegründeter) Eifersucht, lässt ihn zusammenschlagen und demütigen, wie er es noch nie zuvor erlebt hatte.Amin sucht Familienmitglieder auf, bei denen sich Sidhem aufgehalten hat, geht ganz instinktiv vor und findet erste verdächtige Spuren. Khadra baut in diese Suche auch immer wieder dialogische Szenen ein, in denen er Positionen zwischen Islamismus, Fundamentalismus und Antisemitismus reflektiert. Etwaige Befürchtungen, dass diese personifizierten Weltanschauungen den Erzählfluss des Romans hemmen oder gar zerstören könnten, erweisen sich als unbegründet. Vielmehr motivieren sie den Handlungsverlauf, indem sie ihn mit Bedeutung aufladen. Amin wird nicht nur als einsamer Rächer aus gekränkter Eitelkeit oder aus Wut über den Tod seiner Frau dargestellt, sondern in den fatalen politischen Kontext gestellt, der den Krieg zwischen diesen Völkern seit Jahrzehnten befördert. Dabei ergreift Khadra nicht einseitig Partei, sondern konfrontiert das individuelle Schicksal dieses Mannes, der aufgrund seiner Biographie zwischen allen Stühlen sitzt, mit dem Gedankengut gemäßigter und radikaler Palästinenser. Als Amin zum Beispiel in die besetzten Gebiete fährt, das erste Mal seit vielen Jahren, ist er völlig erschüttert von der Hoffnungslosigkeit, dem Verfall und der Tristesse, mit der Einheimische und Flüchtlinge existieren müssen: "In Tel Aviv lebte ich auf einem anderen Planeten."Amin tappt in eine Falle und wird sechs Tage in einem Verließ von einem palästinensischen Kommando gequält und gedemütigt. Deren Befehlshaber will ihn hassen lernen: "Wenn die Träume zerstört werden, wird der Tod zum letzten Ausweg ... Sihem hat das verstanden." Khadra steigert die persönliche Katastrophe im folgenden zur familiären Tragödie, die stellvertretend für ein ganzes Volk zu lesen ist. Ein junger Verwandter namens Adel, dem Amin eine Affaire mit Sihem unterstellte, öffnet ihm die Augen: Sihem war längst Teil einer radikalen Organisation, diente als deren logistischer Brückenkopf in Tel Aviv und befand sich, von Amin unbemerkt, schon seit langem auf der Suche nach "einer anderen Art von Glück". Während Amin zum "Quotenmohr" avancierte, mit Ehrungen überhäuft wurde, Karriere machte und damit für die anhaltenden Erniedrigungen auf dem Weg zu diesem Ziel gleichsam entschädigt wurde, hatte Sihem den Rücken lange beugen müssen und nie die Chance erhalten, "sich ganz aufzurichten".Khadra führt seine Hauptfigur allmählich aus dem blinden Winkel und löst, in der kriminalistischen Dimension dieses aufregenden Textes, den Fall: Sihems Tat ist nicht die eines verführten Opfers, sondern als bewusster, politisch kalkulierter, militanter Akt zu verstehen, in einem Land, das als neues, großes Ghetto erscheint und sich in einer Todesschleife bewegt. Während Amin in den Schoß seiner Familie, seines Stammes, zurückkehrt, brechen zwei junge Familienmitglieder zu neuen Anschlägen auf; im Gegenzug zerstört die israelische Armee das Stammhaus der Familie. Der Keim für eine weitere Eskalation der Gewalt ist gesät.Dieser Roman weiß mehr über diesen Bürgerkrieg und das Elend eines Volkes zu erzählen als viele Sachbücher zu diesem Thema. Yasmina Khadra hat erneut unter Beweis gestellt, dass er zu den international bedeutendsten Autoren unserer Zeit zu zählen ist. Kein Wunder, dass sich auch die Filmproduzenten aus Hollywood bereits gemeldet haben. Doch bis dahin sei allen diese einzigartige Mischung aus Thriller, antiker Tragödie und politischer Innenschau wärmstens ans Herz gelegt.Yasmina Khadra: Die Attentäterin. Roman. Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe. Nagel Kimche, Zürich 2006. 270 S., 19,90 EUR
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