Zwischen den Toten

Leseprobe Ich schloss meine Augen, als könnte ich das Vorgefallene auslöschen, es ungeschehen machen. Aber diese Geschichte muss erzählt werden
Ausgabe 12/2019
Zwischen den Toten

Foto: Stephane de Sakutin/AFP/Getty Images

Die Toten hielten einander fast an den Händen. Der Fuß des einen berührte den Bauch des anderen, dessen Finger das Gesicht des Dritten streiften, welches der Hüfte des Vierten zugekehrt war, und alle, wie nie zuvor und nun für immer, wurden in dieser Anordnung zu meinen Gefährten. Es hätte eine Figur aus einem Totentanz sein können, wie ich ihn seit zwanzig Jahren manchmal auf dem Weg zum Haus meiner Großeltern im Nivernais in der Kirche von La Ferté-Loupière sah; eine von einem Kind aus Papier ausgeschnittene Figurengirlande, ein festgefrorener Reigen, eine horizontale Kreuzabnahme oder eine unbekannte, düstere Ver- sion von Matisses Der Tanz. Ich war einer von ihnen, aber ich war nicht tot, und in den Minuten nach dem Aufbruch der Mörder sah ich sie zuerst nicht so, weil ich sie überhaupt nicht sah. Mein Blickfeld beschränkte sich auf die Leere, die auf das Ereignis und meine eigene Reglosigkeit oder, um genauer zu sein, auf meinen Schwebezustand folgte. Ich hatte die wahrgenommene Silhouette noch nicht mit dem Wort Mörder assoziiert und wusste nicht, ob sie allein oder in Begleitung gekommen war. Das Attentat war noch nicht ganz in mein Bewusstsein gedrungen, hatte aber be- reits seine Scheuklappen aufgesetzt und grub sich zurück zu den einsamen Katastrophen der Kindheit: In diesem Augenblick war ich allein inmitten der anderen und höchstens fünf oder sieben Jahre alt.

Der Redaktionsraum bildete zunächst das Standbild eines undurchdringlichen und rätselhaften, noch nicht tragischen Films, der weder richtig begonnen hatte noch richtig zu Ende war; eines Films, in dem ich ohne mein Zutun mitspielte, ohne zu wissen, was und wie ich zu spielen hatte, ob ich als Hauptrolle, Ersatzdarsteller oder Statist vorgesehen war. Die brutal improvisierte Szene schwebte durch die Trümmer unserer eigenen Leben, doch nicht die Hand eines Filmvorführers hatte alles gestoppt, sondern bewaffnete Männer mit ihren Kugeln; das, was wir uns nicht vor- gestellt hatten, wir, die Profis des aggressiven Vorstellungsvermögens, weil es schlichtweg nicht vorstellbar war. Der unerwartete Tod; der systematisch vorgehende Elefant im Porzellanladen; der kurze und kalte Orkan; das Nichts.

Das Nichts ist ein Wort, das nur noch ungern gebraucht wird und das ich aufgrund allzu zahlreicher oder ungenügend inter- pretierter Gedichte in zu vielen Artikeln verwendet hatte, eines dieser Wörter, das mit den Jahren in unserem Bewusstsein aufgequollen war wie eine Leiche im Wasser, aufgequollen und schließlich geplatzt. Es ist ein Zustand, der sich denken lässt, man verwendet und denkt das Wort aber im Allgemeinen, wie man mit Platzpatronen schießt, ohne es je ganz auf sich beziehen zu können. In diesem kleinen, gewöhnlichen und eher hässlichen Raum konnte man sich das Nichts nur als Überlebender ausmalen – es beschreiben oder skizzieren, bevor man zum nächsten Text oder zur nächsten Zeichnung übergeht. Aber war ich in diesem Moment ein Überlebender? Ein Wiedergänger? Wo waren der Tod und das Leben? Was war noch von mir übrig? Ich überdachte diese Fragen nicht von außen, wie Aufsatzthemen. Ich lebte sie. Sie lagen dort, auf dem Boden, rings um mich und in mir, konkret wie eine Absplitterung oder ein Loch im Parkett, vage wie eine unidentifizierte Krankheit, sie füllten mich aus, und ich wusste nicht, was ich mit ihnen anfangen sollte. Ich weiß es immer noch nicht und glaube nicht, dass ich das Folgende schreibe, um es zu entdecken oder um mich darüber hinwegzutrösten, neben einem großen Stück meines Kiefers etwas – ja was genau? – verloren zu haben. Ich versuche schlicht, das Ereignis in seinem Wesen zu erfassen und zu begreifen, wie es meines verändert hat. Ich versuche es, aber es gelingt mir nicht. Die Wörter helfen einem beim Weitergehen, aber wenn man so weit gegangen ist, urplötzlich, gegen den eigenen Willen, erspüren und erobern sie nichts mehr; sie begnügen sich damit, dem Vorgefallenen zu folgen wie alte, hechelnde Hunde. Sie stecken der zersprengten Herde aus Gefühlen und Visionen künstliche, allzu enge Ziele.

Auf dem Boden öffnete ich erneut ein Auge und blickte auf wenige Quadratmeter und diese Welt ohne Grenzen. Die Trümmer waren weder aus Staub, noch aus Asche, noch aus Glas oder Gips. Sie waren aus Stille und Blut. Ich spürte das Blut nicht, in dem ich förmlich badete, hatte mein eigenes noch nicht gesehen, doch ich hörte die Stille, nichts anderes. Sie hüllte mich ein, ergriff meinen Körper und brachte ihn über mir und den anderen blindlings und endlos zum Schweben, für Sekunden, Minuten, eine Ewigkeit, leicht, federleicht, während der Mann von vorher, der fast schon tot war und am Boden haften blieb, zu mir sagte: »Was ist eigentlich geschehen? Ist es möglich, dass mir nichts passiert ist? Dass ich lebendig und hier bin? Oder vielleicht doch nicht?« Etwas in dieser Art. Der Halbtote fügte hinzu: »Vielleicht ist er noch nicht weg, der, der ›Allah Akbar‹ gesagt hat. Lieber nicht bewegen.« Alles beschränkte sich noch auf das Auftauchen zweier schwarzer Beine und das Warten auf ihre Rückkehr.

Was den Rest anging, ähnelten die Wörter des Halbtoten ein bisschen denen, die man im Traum ausspricht: zugleich deutlich für den Schläfer und unverständlich für denjenigen, der sie, an seiner Seite wachend, hört. Ich konnte den, der ich einmal gewesen war, schon nicht mehr genau verstehen, wusste es aber nicht. Ich hörte ihn sprechen und dachte: Was sagt er bloß?

Ich lag auf dem Bauch, den Kopf nach links gewandt, und hatte dementsprechend zuerst das linke Auge geöffnet. Ich sah eine blutige linke Hand aus meinem Jackenärmel ragen und brauchte eine Sekunde, um zu begreifen, dass diese Hand mir gehörte, eine neue Hand, mit einem Schnitt im Handrücken, einer Verletzung zwischen den sogenannten Metacarpophalangealgelenken, zwischen Zeige- und Mittelfinger. Wörter, die ich nachträglich ge- lernt habe, weil ich lernen musste, die verletzten Körperteile, die entsprechenden Behandlungen und ihre Begleiterscheinungen zu benennen. Indem ich sie benannte, konnte ich sie zähmen und mit dem, was sie bezeichneten, ein bisschen besser oder zumindest weniger schlecht umgehen. Das Krankenhaus ist ein Ort, an dem jeder, in Worten wie in Taten, die Aufgabe hat, präzise zu sein.

Die Stimme dessen, der ich noch war, sagte zu mir: »Ach, unsere Hand ist getroffen. Dabei spüren wir gar nichts.« Wir waren zu zweit, er und ich: Genauer gesagt, er unter mir, während ich darüber schwebte und er mich von unten mit »wir« anredete. Das Auge lugte über die Hand und sah, in einem Meter Entfernung, den Körper eines bäuchlings ausgestreckten Mannes, dessen karierte Jacke ich erkannte und der sich nicht rührte. Es glitt bis zu seinem Schädel hoch und sah zwischen den Haaren das Gehirn dieses Mannes, Kollegen und Freundes, das leicht aus dem Schädel quoll. Bernard ist tot, sagte mir derjenige, der ich war, und ich antwortete, ja, er ist tot, und genau hier wurden wir eins, an jenem Punkt, an dem dieses Gehirn hervorquoll, das ich am liebsten wieder in den Schädel zurückgestopft hätte und von dem ich mich nicht mehr losreißen konnte, denn seinetwegen habe ich in diesem Moment endlich gespürt und begriffen, dass etwas nicht rückgängig zu Machendes geschehen war.

Wie lange habe ich Bernards Gehirn angeschaut? So lange, dass es zu einem Teil meiner selbst wurde. Ich musste mich anstrengen, um mich abzuwenden und den Kopf auf die andere Seite, zu meinem anderen Arm zu drehen. Es dauerte ewig. Ich glaube nicht, dass sich der von vorher mit mir über die Notwendigkeit und die Art dieser Bewegung einig war. Es wurde gerungen. Der von vorher wollte die Folgen des Vorgefallenen nicht entdecken, er war klug genug, um zu ahnen, dass die schlechten Neuigkeiten ruhig warten können, solange sie nicht durch gute gemildert wer- den, aber er musste wohl oder übel demjenigen, der sie erlebte, folgen; er hatte nicht das Sagen, und ohne es zu wissen, erlosch er allmählich in dem neuen Bewusstsein, das wie aus einem mit dem Dasein verschmolzenen Schlaf auftauchte.

Sieht aus wie Kalbsleber

Ganz langsam wandte ich den Kopf, wieder so, als wäre der Mörder da: Wie ein Kind, das sich nach dem Verschwinden der ihm nachstellenden Bösewichte immer noch totstellt und unwillkürlich durch die Finger sieht, was es, wäre es tatsächlich tot, nicht sehen könnte: die Toten rings um sich nach dem Angriff. Vor mir sah ich die Beine eines Mannes, der sich nicht rührte und den ich ebenfalls für tot hielt, obwohl er es nicht war: Fabrice. Wie ich bisher, stellte auch er sich vermutlich tot oder erwartete den Gnadenstoß, oder er schwebte in jenem Raum, der noch nicht vollständig zu einer Schmerzenswelt geworden war. Mein Kopf drehte sich weiter und kam sanft auf der linken Wange zu liegen. Ich sah, dass mein anderer Jackenärmel, der rechte, zerrissen und der Unterarm vom Ellbogen bis zum Handgelenk aufgeschlitzt war. »Wie von einem Dolch«, sagte derjenige, der noch nicht ganz tot war, und er sah eine Art Rambo-Messer vor sich, lang, gezackt, scharf geschliffen. Beim Anblick der tiefen Fleischwunde dachte er: »Das sieht aus wie Kalbsleber.« Und er erinnerte sich an die Kalbsleber, die seine Großmutter ihm als Kind in der Rue des Blancs-Manteaux zubereitet hatte, sie hatte genau die gleiche Farbe und die gleiche Textur, und derjenige, der noch nicht ganz tot war, betrachtete sie immer ausgesprochen gern, bevor er sie aß. »Für ihre Katze«, ergänzte er, »kaufte meine Großmutter Rinderleber« – aber das Blut, das aus der Wunde rann, um in der immer furchtbareren Stille zu gefrieren, ertränkte die Erinnerung, und ich dachte endlich: »Ich bin am Arm verletzt.« Meine zweite Hand weiter oben war ebenfalls voller Blut, aber ich wusste und spürte nicht, ob das Blut aus dem Arm oder von einer noch unbemerkt gebliebenen Verletzung stammte. Das ganze Blut stammt von derselben Verletzung, dachte ich und überlegte, ob bei dieser Verletzung Knochen gebrochen seien. Ich fuhr mir mit der Zunge durch den Mund und spürte, dass überall einzelne Stücke von Zähnen schwammen. Nach ein paar Sekunden der Panik dachte derjenige, der noch nicht ganz tot war, »Du hast den Mund voller Knöchelchen«, und er sah seine ganze Kindheit durch die Spielknöchelchen, mit denen sie im Zimmer oder draußen im Sand gespielt hatten. Dann traten die Zähne an die Stelle der Knöchelchen, jeder Zahn hatte seine eigene, seit fünfundzwanzig Jahren mit meinem Zahnarzt verbundene Geschichte, wir waren zusammen alt geworden und nun, dachte ich, war seine ganze Arbeit umsonst gewesen. Die Panik kehrte zurück, und ich vergaß lieber alles, die Knöchelchen, die Zähne, den Zahnarzt, weil ich nicht lebendig genug war, um wieder ganz in meine Kindheit oder Jugend abzutauchen und »herzhaft ins Leben zu beißen« – eine französische Redewendung, die nun, da ich nicht mehr beißen konnte und gerade noch mal mit dem Leben davongekommen war, da ich weder lebendig noch tot genug für das Bevorstehende war, eine gewisse Komik hatte.

Ich wandte meinen Kopf wieder Bernards Körper zu, und indem ich erneut auf seinen Schädel und sein Gehirn starrte, verspürte ich zum ersten Mal eine gründliche Traurigkeit; gründlich deshalb, weil ich das Gefühl hatte, jedes einzelne seiner nassen und wegen der hervorquellenden Masse aneinanderklebenden Haare zu sein: Mein ganzer Körper und das, was mir an Bewusstsein verblieb, war auf ein Mikroskop montiert. Ein letztes Mal schloss ich die Augen, als wollte ich das Vorgefallene auslöschen, als könnte ich das Ungesehene ungeschehen machen. Als ich sie wieder aufschlug, war Bernard noch immer da. Derjenige, der ich wurde, wollte weinen, aber der, der noch nicht ganz tot war, hinderte ihn daran. Er sagte: »Sie sind weg, du musst aufstehen.« Er sagte es im Plural, »sie sind weg«, als wäre gar nichts gewesen. Derjenige, der noch nicht ganz tot war, versuchte, sich im Einzelnen seine Gewohnheiten zurechtzulegen. Sein einziger Gedanke war, sich seinen Rucksack zu schnappen, aufs Fahrrad zu steigen und seine Spalten über Shakespeare abzugeben. Er suchte nach seinen Gewohnheiten und Sorgen. Er hangelte sich von Reflex zu Reflex wie ein kopfloses Huhn.

Stille hatte sich eingenistet

Ich drehte mich allmählich auf die Seite, richtete mich, auf dem Boden sitzend, etwas auf und lehnte mich gegenüber von einer Tür an die Wand. Ich griff mir an den Hals und merkte, dass mein Schal immer noch da, aber durchlöchert war. Vor mir, fast unter dem Tisch, lag Bernard und direkt daneben, im Durchgang und auf dem Rücken, Tignous. Damals sah ich nicht, was mir der Polizeibericht anderthalb Jahre später offenbarte: Ein Kugelschreiber steckte senkrecht zwischen den Fingern seiner Hand. Tig- nous war gerade am Zeichnen oder Schreiben, als sie den Raum stürmten. Die Ermittler haben dieses Detail vermerkt, das von der Geschwindigkeit zeugt, mit der sich das Massaker vollzog, und von der Fassungslosigkeit, die unserer Hinrichtung voraus- ging. Tignous ist mit dem Kugelschreiber in der Hand gestorben wie ein von der Lava erfasster Bewohner Pompejis, ja sogar noch schneller, ohne zu wissen, dass die Eruption stattgefunden hatte und die Lava heranwälzte, ohne sich vor den Mördern in die ge- rade entstehende Zeichnung flüchten zu können. Jeder Zeichner zeichnete vermutlich, um das Recht zu haben, sich in das Ge- zeichnete zurückzuziehen, so wie sich jeder Schriftsteller irgendwann für eine Weile im Geschriebenen auflöst. Diese Auflösung war keine Überlebens-, geschweige denn eine Qualitätsgarantie, vielmehr eine notwendige Etappe auf dem Weg dorthin. Diesmal war den Zeichnern nicht nur das Recht auf Auflösung verweigert worden, das genaue Gegenteil war eingetreten: Man hatte sie ge- waltsam in eine Zeichnung katapultiert, die sie sich nicht ausgemalt hatten – ein schwarzer Gedanke von Franquin –, und sie waren nicht mehr herausgekommen. Die Mörder mochten Besessene sein, meine toten Gefährten besaßen nichts mehr. Man hatte ihnen ihre Kunst und ihre ungestüme Sorglosigkeit genommen, alles Leben. Als Salman Rushdie Ayatollah Chomeinis Fatwa zum Opfer gefallen war, hatte der Schriftsteller V. S. Naipaul ihm seine Unterstützung mit dem Argument verweigert, es handle sich dabei letztlich nur um eine extreme Form der Literaturkritik. Sein Sarkasmus erklärte sich mehr aus seiner Reizbarkeit und einer ungnädigen Besprechung, mit der Rushdie eines seiner Bücher be- dacht hatte, als aus seiner mangelnden Sympathie für Muslime, war aber nicht ganz unbegründet: Jede Zensur ist definitiv eine extreme und paranoide Form der Kritik. Die extremste Form der Kritik konnten nur Unwissende oder Ungebildete üben, das lag in der Natur der Dinge und entsprach exakt dem, was gerade passiert war: Wir waren den effizientesten Zensoren zum Opfer gefallen, denen, die alles ausradieren, ohne eine einzige Zeile gelesen zu haben.

Die Zeichner hatten keine Zeit gehabt, an die Zeichnung zu denken, die sie in sich einschloss. Haben sie überhaupt an etwas gedacht? Wenn ja, was mag jeder Einzelne gedacht haben? Ich neige zu der Annahme, dass sie keine Zeit hatten, überhaupt an irgendetwas zu denken, zumindest ich hatte an so gut wie nichts gedacht. Womöglich definierte sich das Grauen dadurch: in dem auf das absolute Mindestmaß reduzierten Zeitraum zwischen der letzten Sekunde des Lebens und dem Ereignis, das dieses Leben unterbrechen wird, dem Tod ohne Vorwarnung. In diesen Zeitraum passt nur wenig hinein. Und doch nimmt dieses Wenige kein Ende. Wenn man überlebt, ist ihm alles andere unterworfen.

Ich weiß nicht, wie lange die Stille anhielt. Aber sie hatte sich so fest eingenistet, dass ich irgendwann begriff, dass meine Stimmen recht gehabt hatten: Die Mörder würden nicht mehr zurückkommen. Ich streckte einen Arm nach meinem Rucksack aus, der ein paar Zentimeter weit weg auf dem Boden lag, und drückte ihn an mich wie ein altes Mütterchen, das Angst hat, ausgeraubt zu werden. Darin befanden sich meine Papiere und Bücher, mein ganzes derzeitiges Leben. Später erfuhr ich, dass der Redaktionsraum eine einzige Blutlache war, in der ich, wie bereits erwähnt, badete, ohne sie zu sehen. Ich sah nur Bernards Schädel, Tignous’ Gesicht, Fabrices Beine, ohne mir bewusst zu sein, dass das Bein eines anderen auf mir lag, und Honorés Körper zwischen diesem Bein und dem Rest, wie ich im Nachhinein erfuhr. Ich sah nur mein eigenes Blut, die natürliche Verlängerung meiner Verletzungen.

Einzelne Silhouetten tauchten auf, die ich jedoch nicht sofort erkannte, sie kamen nicht näher, und endlich erkannte ich Sigo- lène mit ihren hellen Augen, ihrer zarten, rehhaften Erscheinung. Ich war froh, sie zu sehen. Sie versuchte näherzukommen, aber es gelang ihr nicht, und ich verstand nicht warum. Ich glaube, sie weinte ein bisschen, gewohnt diskret, sie ist an Diskretion nicht zu überbieten; es war eine wunderbare Erfahrung, ihr dabei zuzuschauen, wenn sie auf ihre Harley-Davidson stieg, wie die Leichtigkeit, gepaart mit Eleganz und Zerbrechlichkeit, die Kraft zähmte. Diesmal aber hatten wir uns auf den Gaul des Erlkönigs geschwungen. Gaul ist ein Wort, das bei Charlie oder bei Don Quichotte hätte vorkommen können. Sein ungelenker Trab entsprach weder der Harley-Davidson von Sigolène, die mich weinend ansah – jetzt war ich mir sicher –, noch dem kräftigen Galopp eines Tieres, das ein Kind dem Tod entgegenträgt. Dabei passte dieses Wort auf jeden Einzelnen von uns, auf diese Zeitung, auf die alte Linke und einen immer größeren Teil unserer Gesellschaft: ein Gaul, der Gaul, Gäule werden zur Strecke gebracht. Ich merkte, dass ich nur schwer atmete, und verstand nicht weshalb. Sigolène kam irgendwann näher, später sagte sie mir, dass wir uns ein bisschen unterhalten und sie mich deutlich verstanden hätte. Ich erinnere mich nicht, was ich gesagt habe. Nur daran, dass sie die erste lebendige und unversehrte Person war, die vor mir auftauchte, die erste, die mich spüren ließ, wie sehr alle, die sich mir künftig näherten, von einem anderen Stern kamen – dem Stern, auf dem das Leben weitergeht.

Ihre Silhouette verblasste auf unbestimmte Weise in dem nebligen, lauten und kalten Jenseits, das sich hinter der Tür des Redaktionsraums befand und bald auch hinter der Tür des Krankenhauszimmers sein würde. Ein Jenseits, in dem die Leute sich in einem verbotenen und fernen Raum frei bewegten, gleich würden sie von einem blinden Punkt zum nächsten galoppieren, bevor sie vorübergehend wieder vor mir standen, wie fast unbewegliche Bühnendarsteller, die ihre Rollen entdecken und ihre Leben in der Garderobe abgeben. Sigolènes Silhouette entschwand, und ich war wieder allein, auf unbestimmte Zeit.

Philippe Lançon wurde bei dem islamistischen Terroranschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo im Januar 2015 schwer verletzt. Er musste 17 Gesichtsoperationen erdulden und seine Identität rekonstruieren. In Der Fetzen geht es um die Katastrophe, vor allem aber das Weiterleben

In der erneut einkehrenden Stille tauchte Cocos Silhouette auf. Wie schon Sigolène schien sie aus dem Sarg zu steigen, dem ich nur knapp entkommen war. Sie auch lebendig, dachte ich. Lebendig? Ich betrachtete die schwarzen Haare und dunklen Augen der herantretenden jungen Zeichnerin, ich sah sie doppelt. Derjenige, der noch nicht ganz tot war, sah sie so, wie er sie zum ersten Mal erlebt hatte, als sie mit ihrem ägyptischen Aussehen schweigsam und unbekannt hinter den anderen Konferenzteilnehmern gesessen hatte. Damals hatte die Zeitung ihren Sitz noch in der Rue de Turbigo im Herzen von Paris. Cavanna war dabei gewesen, mit seinem zweifelnden Kinn und seinem Musketier-Schnurrbart. Derjenige, der leben müssen würde, sah sie näherkommen wie ein Geschöpf aus einer anderen Welt, der er nicht mehr angehörte. Sie beugte sich zu mir herunter. Wie Sigolène, weinte sie. Ich wusste nicht, dass sie den Mördern unter Waffengewalt hatte öffnen müssen, und obwohl sie für nichts verantwortlich war, hatte sie schon begonnen, mit dieser Erinnerung zu leben, einer jener Erinnerungen, die uns isoliert und auf eine Szene zurückwirft, die wir gern anders, befreit und auf die bestmögliche Weise spielen würden und die immer wieder gleich abläuft, um uns nur umso fester einzuschließen.

Ich schaute regelmäßig nach rechts auf Bernards offenen Schädel. Auch wenn die Erinnerung an dieses Bild einen stechenden Schmerz bewirkt, den ich manchmal bewusst anfache, wie wenn man auf einen kranken Zahn drückt, um den Nerv besser zu spüren, will ich nicht, dass es sich zu schnell verflüchtigt, ich will lange genug leben, um jede Form von Tod zu leugnen und mich möglichst lange und gut an dieses Bild zu erinnern, ohne es anderswo sagen oder wiederholen zu müssen als in diesem Text, der es verewigt.

Ich holte mein Handy aus der Jackentasche, gab das Passwort ein und scrollte mich durch die Kontaktliste. Ich hatte es eilig, aber sie nahm kein Ende und schien mir überflüssig. Wie hatte ich nur so viele Leute kennen können, deren Namen mir oft nichts mehr sagten? Und weshalb schienen diese Unbekannten hier, vor meinen Augen, so schnell von denen eingeholt zu werden, die ich noch kannte und die von einer Sekunde zur nächsten im Takt der vorbeiziehenden Namen immer verschwommener schienen? Oder vielmehr, schmerzlich verschwommen? Die Namen zogen vorüber und ihre Träger verabschiedeten sich von mir, wobei dieser stille, wie erloschene Abschied einer Betäubung glich.

Das also war das Leben eines Journalisten, eines Einundfünfzigjährigen? Ein viel zu langer Kometenschweif – bis zur Nummer meiner Mutter, die unter dem Namen »Madre« erschien. Wen hätte ich sonst anrufen sollen, und um was zu sagen? Gabriela war in New York und schlief. Mein Bruder war auf Geschäftsreise in Nizza. Mein Vater benutzte sein Handy so gut wie nie. Ich fühlte mich gleichzeitig klar und abgedriftet, ohne zu wissen, worauf sich diese Klarheit bezog und wohin ich abgedriftet war. Ich hielt Coco das Handy hin und entdeckte in diesem Moment mein Gesicht auf dem Display. Haare, Stirn, der Blick, die Nase, Wangen und Oberlippe – das alles war in Ordnung und unversehrt. Doch anstelle des Kinns und der rechten Seite meiner Unterlippe klaffte nicht etwa ein Loch, sondern ein Krater aus zerstörtem, herab- hängendem Fleisch, der von der Hand eines kindlichen Malers zu stammen schien, wie ein dicker Deckfarbenklecks auf einer Leinwand. Das, was von Zahnfleisch und Gebiss noch übrig war, lag offen, und der Gesamtanblick – die Verbindung aus dem zu einem Dreiviertel intakten Gesicht und einem zerstörten Teil – machte aus mir ein Monster. In den ersten Sekunden war ich fassungslos. Dann legte ich mir eine Hand unter das Kinn, um es abzustützen und zu reparieren, als würden die aneinandergepressten Fleischfetzen wieder zusammenwachsen, als könnte das Loch verschwinden und das Leben weitergehen.

Doch nein, Sigolène war sich bei ihrer späteren Aussage ganz sicher, ich hätte diese Geste schon gemacht, als sie auf mich zukam. Demnach hatte ich bereits vor ein paar Minuten mein Telefon herausgeholt und mein Gesicht entdeckt. Sigolène und Coco verschmelzen in einer Zeremonie, die falsche Erinnerungen an das vorangegangene Ereignis austeilt. Ich ertrage diese Verwirrung noch immer nicht: Die Tatsachen sind das einzige Gepäck, das ich auf die folgende Reise gern mitgenommen hätte; doch wie alles Übrige, verformen sie sich unter dem Druck. Die Gewalt pervertierte, was sie nicht zerstört hatte. Wie ein Sturm hatte sie das Boot versenkt. Erinnerungen trieben an die Oberfläche, ungeordnet, verzerrt, unbrauchbar, manchmal nicht mehr zu erkennen, dabei überaus präsent. Kaum hatte ich den Augenblick erlebt, lagerten sich bereits seine Spuren auf der Insel ab, auf der ich gestrandet war, in diesem kleinen Raum voller Papier, Blut, Körper und Pulver. Ich musste eine unmögliche, aber notwendige Auswahl treffen, wie Robinson Crusoe unter den Wrackteilen seines Schiffes. Dabei merke ich, dass dieses Schiff keinen Namen hat, und frage mich am Vortag meiner Krankenhausüberfahrt und eines insularen und psychischen Daseins, bei dem du, lieber Leser, mich vielleicht begleiten wirst, mit einer gewissen Beunruhigung, wie der legendäre Schiffbrüchige auf einem namenlosen Schiff hatte in See stechen können. Mit einer gewissen Beunruhigung, weil ich in diesem Stadium nicht weiß, wie ich mein eigenes Boot, geschweige denn meine Insel – oder, genauer gesagt, meine Inseln – nennen soll. Wenn Schreiben darin besteht, sich alles Fehlende auszumalen, die Leere durch eine ge- wisse Ordnung zu ersetzen, dann schreibe ich nicht: Wie könnte ich die geringste Fiktion erschaffen, nachdem ich selbst von einer Fiktion verschluckt worden bin? Wie ließe sich auf solchen Ruinen eine Ordnung begründen? Ebenso gut könnte man Jonas, während er im Bauch eines Walfisches lebt, zu der Vorstellung animieren, dass er im Bauch eines Walfisches lebt. Ich brauche nicht zu schreiben, um zu schwindeln, auszuschmücken und das am eigenen Leib Erfahrene umzuwandeln. Es zu leben, hat mir genügt. Und trotzdem schreibe ich.

Alle um uns herum waren tot

Ich meine, zu Coco gesagt zu haben: »Das ist die Nummer meiner Mutter, sag ihr Bescheid!« Aber sie zögerte. Ich wurde ärger- lich, zum einen, weil sie mich nicht zu verstehen schien, zum anderen, weil sie vermutlich Gründe hatte, mich nicht zu verstehen. Ich verstand nicht, was sich widersetzte. Alle um uns herum waren tot, das war jedoch kein Grund, unter Überlebenden nicht zu kommunizieren. Ich verstand, was ich sagte, hörte meine Stimme, meine Worte, alles war absolut klar, und ich wusste, was zu tun war, dennoch bedeutete mir ihr Blick, dass sie mir nur mühsam folgte. Dabei war meine Stimme, die ich normalerweise so ungern und jetzt ausnahmsweise erfreut hörte, präsent und an ihrem Platz.

Ein paar Zahnstücke schwirrten von rechts nach links und von links nach rechts durch meinen Mund, meine Zunge spielte damit wie mit Krümeln, und ich merkte, dass ich mich möglicherweise undeutlich artikulierte. Coco nahm mein Handy, sah den Namen auf dem Display und wiederholte: »Deine Mutter? Ich soll deine Mutter anrufen?« Ich bejahte. Sie rief an, und ich hörte sie sagen: »Guten Tag, ich bin Coco, ich arbeite als Zeichnerin bei Charlie. Hier hat ein Attentat stattgefunden. Ihr Sohn ist schwer verletzt. Ich bin bei ihm, er hat überlebt, aber er ist entstellt.« Hat sie das gesagt? In meiner Erinnerung ja, und ich meine, mich an folgende Reaktion zu erinnern: »Sag das nicht!« Coco sprach noch ein paar Sekunden mit meiner Mutter, ich weiß nicht mehr, dann beendete sie das Gespräch, schluchzte lautlos und weinte. Später habe ich erfahren, dass meine Mutter sie gefragt hatte, was passiert sei und wo ich mich befände. Sie dachte zunächst, dass ich das einzige Opfer sei und man wegen meines Artikels über Houellebecq auf mich geschossen habe. Das stimmte zwar nicht, war aber auch nicht völlig falsch. Diejenigen, die uns aus dem Weg räumen wollen, haben immer einen Grund dafür, und es ist interessant, sich vorzustellen, dass sie nicht unbedingt im Unrecht sind Doch Coco zufolge soll ich gesagt haben: »Ruf meine Mutter an, sag ihr, dass ich entstellt bin!« Möglich.

Nachdem ich zufällig mein Gedicht entdeckt hatte, habe ich unter dem Schock einer mich übrigens ungerührt lassenden Offenbarung Coco vielleicht gebeten, das zu übermitteln, was mir trotz allem die zentrale Botschaft schien. Wenn das der Fall ist, hatte Coco mich sehr gut oder zumindest gut genug verstanden. Warum also sollte ich sie später ständig zögern und schwanken sehen, so als verstünde sie nicht, worum ich sie bat? War ich derjenige, der zauderte und nichts begriff, der gedankenloses Zeug redete und sich wie ein professioneller Lügner, wenngleich aus legitimeren Gründen, ein selektives Gedächtnis zulegte? War der Mann, der die Erinnerungen sortierte, als wäre seit der letzten Minute ein ganzes Jahrhundert vergangen, derjenige, der schon fast tot war, oder derjenige, der allmählich an seine Stelle trat? Ich wusste nicht, welcher von beiden lebte, und ich weiß nicht, welcher von beiden schreibt.

Info

Der Fetzen Philippe Lançon Nicola Denis (Übers.), Klett-Cotta, 551 S., 25 €

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