Serra C., 39,
wurde in Deutschland geboren und lebt mit ihrem Mann und ihrem dreijährigen Sohn in Istanbul.
Ich bin ein deutsch-türkisches Kind der dritten Generation. Mein Vater wuchs Ende der 50er in Deutschland auf, meine Mutter kam Mitte der 70er aus der Türkei. 1978 kam ich zur Welt. Ich war das, was man als „voll integriert“ bezeichnen würde. Aber ich saß auch immer zwischen den Stühlen. Allerdings sehe ich das nicht als etwas Negatives. Nach meinem Studium in England wollte ich wissen, wie es ist, in der Türkei zu leben. Ich empfand die Türkei immer als den wärmeren Ort, wo Leute freundlicher zueinander sind. Das sehe ich zwar teilweise noch so, aber damals idealisierte ich das. Heute weiß ich, dass das Leben hier andere Herausforderungen birgt.
In Istanbul fand ich schnell einen Job bei einer Marktforschungsagentur. Als 2013 mein Sohn zur Welt kam, wollte ich weniger arbeiten. Aber als Frau und Mutter in der Türkei kann man nicht viel Unterstützung erwarten, von wegen Mutterschaftsurlaub. 2015 habe ich dann gekündigt. Mein Mann arbeitet in der Tourismusbranche. Doch die Besucherzahlen sind wegen der Anschläge in den letzten Jahren rückläufig. Wir kommen zurecht, aber es wird immer schwieriger, und ich fühle mich nicht mehr wohl.
Ich möchte nicht, dass mein Sohn eine religiöse Erziehung bekommt. Private Schulen, in denen gute säkulare Bildung geboten wird, sind aber sehr teuer. Wenn man hier frei von Dogmen leben möchte, muss man gut verdienen. Deutsch-türkische Frauen haben dazu verschiedene Haltungen. Einige fühlen sich wohler hier wegen ihrer Religion. In Deutschland werden sie wegen ihres Kopftuchs teils diskriminiert, hier haben sie ihre Ruhe.
Früher haben wir in der Familie selten über Politik gesprochen. Jetzt ständig. Meine Schwiegereltern waren lange AKP-nah, aber auch sie sehen den Demokratieabbau. Meine Eltern sind pro-Atatürk. Ich vertrete Ansichten wie sie, bin aber im Personenkult gemäßigter. Es ist aber nicht leicht für uns, nach Deutschland zu ziehen. Mein Mann spricht nur wenig Deutsch. Das heißt, ich muss erst mal einen Job finden und er pendelt vorerst zwischen den beiden Ländern.
Metin Özokan, 69,
lebte lange in Murnau in Oberbayern und hatte dort eine eigene Schneiderei. Jetzt lebt er in Antalya.
Genau vor zwei Jahren bin ich wieder in meine Heimat, die Türkei, zurückgekommen. Ich hatte mich gerade von meiner damaligen Partnerin getrennt. Vorher habe ich 45 Jahre in Deutschland gelebt. Die Türkei als Land gefällt mir, alles andere hier aber eher nicht. Vor allem die politische Lage ist sehr schwierig. Das ist nicht die Gesellschaft, in der ich mich wohlfühlen kann. Die AKP finde ich ehrlich gesagt auch zum Kotzen. Nicht bei allen Personen aus der Partei, aber bei vielen sehe ich eine große Doppelmoral.
Jetzt wieder zurückkehren nach Deutschland? Das geht nicht. Ich habe nach wie vor nur den türkischen Pass. Und mit einer Rente in Höhe von 350 Euro kann ich in Deutschland nicht wirklich leben, meine Sozialhilfeantrag wurde abgelehnt. Ich will gern nach Deutschland zurück, muss deshalb aber in der Türkei bleiben. Außerdem bin ich gesundheitlich angeschlagen, ich habe Krebs.
Was ich in der Türkei ändern würde? Mehr Bildung, Kunst, Toleranz und Respekt füreinander. Und Religion hat mit Politik überhaupt nichts zu tun, das sollte man strikt getrennt halten.
Die wirtschaftliche Lage ist auch sehr schlecht. Ich kenne mehrere Personen mit Uni-Diplom in der Tasche, die arbeiten für 1.400 türkische Lira (etwa 350 Euro) sechs Tage in der Woche und zwar elf bis zwölf Stunden pro Tag. Das ist sehr unfair.
Tamer Kankal, 42,
ist in Siegen geboren und aufgewachsen. Seit 25 Jahren lebt er mit seiner Familie in der Türkei und arbeitet als Hotelier in Izmir.
Ich bin seit über 20 Jahren in der Türkei, aber ich bereue es jeden Tag. Ich will wieder nach Deutschland zurückkehren. Ich arbeite in der Hotelbranche und habe hier ein paar Stammgäste, die auch Firmen in Deutschland haben. Die wollen einen Antrag für mich stellen, damit ich wieder zurück nach Deutschland kann und eine Arbeitserlaubnis bekomme. Jetzt habe ich nämlich nur den türkischen Pass.
Bis zu meinem 17. Lebensjahr habe ich in Deutschland gelebt. 1990 sind wir mit der Familie zurück in die Heimat. Ich habe in der Türkei studiert und bin eigentlich Deutschlehrer, habe den Beruf aber nie ausgeübt. Mein Vater hatte gesundheitliche Probleme. Er wollte daher nicht mehr in Deutschland bleiben.
Die Türkei ist kein Land mehr, in dem man sich sicher fühlt. Ich habe einen Sohn, der ist jetzt sechs Jahre alt, und ich möchte nicht, dass er hier in der Türkei aufwächst. Jeder Mensch hier auf der Straße läuft mit der Angst vor Terror herum. Sobald sie jemanden mit Bart und einer Tüte in der Hand sehen, denken die sofort: Bombenanschlag.
Beim Referendum kann Ja oder Nein rauskommen. Aber wenn ich es richtig einschätze, wird Ja herauskommen. Es wird dann hier das Chaos losgehen. Ich erwarte sofort den Bürgerkrieg, wenn für Ja gestimmt wird. Ich kenne auch jede Menge Menschen in meiner Umgebung, die auswandern möchten. Es sind mehr geworden in den letzten zwei, drei Monaten.
Von einer Rückkehr nach Deutschland erwarte ich nicht so viel, nur einen Arbeitsplatz. In der Position, die ich hier ausübe, gibt es viele offene Positionen in Deutschland. Das wird nicht schwer, dort wieder einzusteigen.
Sirin Manolya Sak, 31,
Journalistin und Moderatorin. Sie ging 2015 von Berlin nach Istanbul, lebt heute wieder in Berlin.
Für eine gewisse Zeit in der Türkei zu leben und zu arbeiten, davon habe ich seit dem 15. Lebensjahr geträumt. Vor zweieinhalb Jahren bin ich nach Istanbul gegangen. Davor war ich immer mal wieder privat und beruflich dort. Ich hatte zwei Journalistenstipendien, das war der Auftakt, um länger dort zu bleiben.
Eigentlich hatte ich aber eine coolere Zeit in der Türkei, bevor ich da dauerhaft hingegangen bin. Dass man noch mal mit Werten konfrontiert wird – mit 30, wenn man den Schritt macht in eine Heimat, die nicht dein Zuhause ist. Und dann kam gleichzeitig der Wandel der Gesellschaft hinzu, der parallel zu meiner eigenen Erkenntnis fortschritt. Die Leute veränderten sich plötzlich, der Wortschatz und die Ansichten. Zum Beispiel das Wort„Vaterlandsverräter“. Wie das den Leuten plötzlich so schnell über die Lippen kommt, und ich sitze daneben und denke: „Oh Gott, das kenne ich aus dem Geschichtsunterricht.“
In Deutschland bekomme ich immer den Stempel Deutschtürkin aufgedrückt. Deshalb habe ich dann gesagt: Okay, ich gehe in die Türkei und will auch Abstand von Deutschland haben. Und dann geheich dorthin und bekomme den anderen Stempel. Immer nur so, wie es passt. Wenn ich erfolgreich in Deutschland bin, dann bin ich die Deutsche mit türkischen Wurzeln. Wenn ich jemanden bedroht hätte, wäre ich wahrscheinlich die Türkin. Wenn es um Sachen geht, die der Türkei passen, ob es das Frauenbild ist, ob man Essen kocht oder so, dann ist man die türkische Frau, die sich so und so zu benehmen hat. Und wenn es um meine politische Meinung geht, dann bin ich die aus Deutschland.
Ich könnte zurück in die Türkei, aber ich will nicht, weil ich einen Beitrag für das ZDF gemacht habe und der wurde dort als kritisch interpretiert. Ich bin nach Deutschland zurückgekommen, weil ich hier zumindest weiß, wenn irgendwas ist – auch dieses Rechtssystem hat Lücken und teils benachteiligende Gesetze –, dass ich mir trotzdem auf jeden Fall einen Anwalt nehmen kann.
Das Gefühl, die Wurzeln loszulassen, hatte ich auch schon in Berlin, als ich der Stadt damals den Rücken gekehrt habe. Aber jetzt ist die Situation eine andere. Jetzt habe ich das Gefühl, meine Freiheit, meine Gedanken und meine Existenz sind in der Türkei bedroht.
Çiğdem Özdemir, 44,
ist in Deutschland aufgewachsen und lebt seit zehn Jahren in Istanbul. Sie arbeitet als Übersetzerin.
Als ich 1974 mit meiner Mutter nach Deutschland zog, war ich ein Jahr alt. Mein Vater war bereits dort und arbeitete in einer Fabrik. Der Plan meiner Eltern war es, in kurzer Zeit viel Geld zu verdienen und dann wieder in die Türkei zurückzukehren. Aber daraus wurde nichts. Sie blieben. Mein Vater liebt die Ordnung in Deutschland. Er ist in diesem Sinne „integrierter“ als ich.
Als meine Geschwister und ich noch Kinder waren, sind wir alle zwei Jahre mit einem Opel-Kombi 3.000 Kilometer von unserem Dorf in Baden-Württemberg bis zur türkisch-syrischen Grenze zur erweiterten Familie gefahren. Drei Tage waren wir immer unterwegs. Wir kamen mit massenweise Pulverkaffee und Nivea-Creme an und reisten mit Unmengen an Linsen und Kichererbsen wieder ab.
Nach meinem Studium fand ich als Übersetzerin für Englisch und Französisch keinen Job, weil die Arbeitgeber Ende der 90er wegen meines ausländischen Namens nicht glaubten, dass Deutsch meine Muttersprache ist. Bei einem Callcenter konnte ich schließlich Fuß fassen. Als ich von deutsch-türkischen Freunden hörte, dass sie auch in der Türkei Schwierigkeiten hatten, einen Job zu bekommen, weil man sie als „Deutschländer“ belächelte und ihr Türkisch zu unsauber fand, kam mir die Idee, dort ein Callcenter für deutsche Kunden aufzubauen. 2005 ging ich also nach Istanbul und entschied mich zu bleiben.
Da ich so oft umgezogen bin, fühle ich mich keinem Ort so wirklich zugehörig. In Istanbul habe ich mich aber sofort wohlgefühlt, weil ich wegen meines Äußeren nicht mehr aufgefallen bin. Es war ein Gefühl des Ankommens und des politischen Aufbruchs. Damals näherte sich die Türkei dem Westen an, die Wirtschaft stabilisierte sich. Ich fühlte mich dort frei. Als 2010 ein erstes Referendum zur Verfassungsänderung und Machtausweitung der AKP-Regierung beschlossen wurde und wegen Erdoğans Anwesenheit bei einem Basketballspiel der Auftritt der Cheerleader abgesagt wurde, war aber klar, dass dieses Gefühl so nicht bleiben würde. 2013 entlud sich der Frust über die wachsenden Einschränkungen in den Gezi-Protesten. Ich habe selbst gesehen, wie gewalttätig die Polizei gegen die Menschen vorgegangen ist.
Ich kenne einige deutsch-türkische Schauspieler, die schon zurück nach Deutschland gegangen sind, weil sie sich hier nicht mehr frei fühlen. Aber in Deutschland bekommen sie vor allem Klischee-Rollen, zum Beispiel als der seine Frau schlagende Kriminelle. Vor allem meine Freunde mit einem Doppelpass haben Angst, wie Deniz Yücel plötzlich wegen irgendwelcher haltlosen Anschuldigungen inhaftiert zu werden.
Letztes Jahr um diese Zeit hat sich in der Einkaufsstraße İstiklal jemand in die Luft gesprengt. Das war 500 Meter von meiner Wohnungstür entfernt. Da wusste ich, dass ich nicht länger hier leben wollte. Lange Zeit hat mich dann ein schlechtes Gewissen geplagt, aus meiner privilegierten Position heraus die Menschen hier im Stich zu lassen. Aber jetzt ist mir klar, dass ich von hier aus tatsächlich weniger ausrichten kann als von Deutschland aus. Mein Umzug steht fest. In Berlin fühle ich mich freier. Von dort aus will ich Leuten, die in der Türkei nicht mehr leben wollen oder können, helfen, in Deutschland Fuß zu fassen. Meine Schwester arbeitet in Berlin in der Geflüchtetenhilfe. Sie sagt, es kommen immer mehr Geflüchtete an, vor allem auch kurdisch-türkische. Wer, wenn nicht wir, soll sich um die kümmern?
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