Zwischen Eigentum und Emanzipation

SPD Hans-Jochen Vogel war ein Politiker, der zeigen konnte, dass freiheitliche und soziale Ideale nicht im Widerspruch zueinander stehen müssen
Ausgabe 31/2020
Hans-Jochen Vogel bei einer Rede im Jahr 1971
Hans-Jochen Vogel bei einer Rede im Jahr 1971

Foto: Keystone/Hulton Archives/Getty Images

Die Welt kann so wunderbar einfach sein. Als am Sonntag der Tod des langjährigen SPD-Vorsitzenden Hans-Jochen Vogel bekannt wurde, waren sich die Nachrufenden einig: Da war ein Mann vom rechten Parteiflügel gestorben. Ist das so? Und was sagt diese Analyse über die innerparteilichen Konstellationen in der SPD von heute aus?

In kaum einem Nachruf fehlte die Geschichte vom Abgang Vogels aus dem Münchner Rathaus. Ausgerechnet 1972, im Jahr der von ihm in die Stadt geholten Olympischen Spiele, hatte der junge und erfolgreiche Oberbürgermeister nicht mehr für das Amt kandidiert. Und warum? „Wegen heftiger Auseinandersetzungen mit der SPD-Linken“ (ZDF) oder, im Originalton der FAZ: „Er, der als Parteirechter galt, konnte den Linksschwenk der Münchner SPD nicht verhindern.“

Die Sache lässt sich auch differenzierter betrachten. Es stimmt sicher, dass der Habitus des begeisterten Bürokraten (das muss kein Widerspruch sein) dem Politiker Vogel eine irgendwie konservative Aura verlieh. Es ist auch richtig, dass er die Agenda 2010 unterstützt hat. Und Vogels Gegnerschaft zu Oskar Lafontaine nach dem Mauerfall ist, um das für ihn angemessene Wort zu wählen, aktenkundig.

Aber zur Geschichte gehört auch, dass Hans-Jochen Vogel als Münchner OB und dann als Bundesbauminister die Grundsatzfrage nach dem Eigentum an Grund und Boden stellte – und zumindest die Abschöpfung von Spekulationsgewinnen durch den Staat verlangte. Er hat das übrigens in der Zeit vor seinem Tod erneut getan. Und zur Geschichte gehört ebenso, dass Vogel als Justizminister für die 1974 beschlossene Liberalisierung des Abtreibungsrechts federführend mitverantwortlich war.

Ja, Vogel war ganz sicher ein Politiker, der die Wählerinnen und Wähler der „bürgerlichen Mitte“ nicht verschrecken wollte. Insofern darf er als Vorgänger eines bis zur Unkenntlichkeit „pragmatischen“ Parteirechten wie Olaf Scholz gesehen werden. Das bezog sich bei Vogel allerdings eher auf den revolutionären Gestus der Jungsozialisten von damals als auf die Inhalte. Viel radikaler, als das Privateigentum an Grund und Boden in Frage zu stellen, waren auch deren Forderungen in Wahrheit nicht.

Heute werden die Lager innerhalb der SPD etwas anders eingeteilt: Aus der berechtigten Kritik an der Vernachlässigung der sozialen Frage wird nicht selten eine fragwürdige Attacke auf diejenigen, die sich – angeblich an der arbeitenden Bevölkerung vorbei – in „Identitätspolitik“ ergehen. Dieser Begriff ist in manchen Kreisen zum Schimpfwort geworden für die libertäre Linke – gerade so, als wären Minderheitenschutz und Rechtsstaat nichts für die arbeitende Klasse. Auf der anderen Seite steht – geadelt mit dem Begriff „Verantwortungslinke“ (Nils Heisterhagen) – der Einsatz für die arbeitenden Menschen, die sich für „Identitätspolitik“ nicht interessierten. Ganz so, als wäre „Klasse“ nicht auch eine Frage von „Identität“.

Frage: Muss ein Mann, der sowohl die Eigentumsfrage stellte als auch das Selbstbestimmungsrecht der Frauen vorantrieb, als „Identitätspolitiker“ gelten, oder darf er „Verantwortungslinker“ genannt werden? Ohne Vogel besser zu machen, als er war: natürlich beides. So viel zu dem Unsinn, der heute seine Blüten treibt – als könnten soziale und freiheitliche Ideale in einer linken Tradition, auf die sich die SPD weiterhin bezieht, auch nur ansatzweise im Widerspruch zueinander stehen.

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