Den so genannten Chroniker- oder Disease Management Programmen (DMP), die vor zwei Jahren im deutschen Gesundheitswesen eingeführt wurden, wird vorgehalten, bürokratisch, unbrauchbar und lediglich zur Umfinanzierung der Krankenkassen eingeführt worden zu sein. Die Bundesregierung lässt diese Kritik nicht gelten, denn diese Programme bilden einen Eckstein für den Umbau des deutschen Gesundheitswesens.
Die Rentnerin Renate Scholz ist seit neun Jahren zuckerkrank. Seit einem Jahr nun nimmt sie am DMP Diabetes Mellitus II teil und ist sehr zufrieden. "Mein Arzt nimmt sich mehr Zeit, untersucht mich gründlicher und wir reden über die Krankheit. Durch die Diabetes-Schulungen habe ich viel über meine Krankheit gelernt. Wenn nun mein Hausarzt mal vergisst, meine Füße zu untersuchen, kann ich ihn daran erinnern."
Die Diabetikerin Renate Scholz gilt als chronisch krank, ebenso wie Asthmatiker, Herz-Kreislauf- oder rheumatisch Kranke. Für diese Patienten wurden die DMP entwickelt. Chronisch Kranke sind kostenintensive Patienten. 80 Prozent der Kosten im Gesundheitswesen werden durch die Behandlung von 20 Prozent der Kranken verursacht, und deren Anteil wird aufgrund der demografischen Entwicklung voraussichtlich weiter wachsen.
Ausgewählt werden für die DMP zuerst häufig auftretende chronische Krankheiten, für die evidenzbasierte Leitlinien existieren, das sind Leitlinien, die nach dem Stand der Forschung entwickelt worden sind und deren Behandlungsempfehlungen anerkannt zum therapeutischen Erfolg führen können. Zusätzlich muss für die DMP ein fachübergreifender Behandlungsbedarf bestehen, der hohe Kosten verursacht. Denn die chronisch Kranken haben ein erhöhtes Risiko, Folgekrankheiten oder Komplikationen zu erleiden - zum Beispiel Schlaganfälle, Herzinfarkte, Nierenschäden, Amputationen oder Erblindungen. Durch strukturierte Behandlungen will man diese Komplikationen vermeiden und die Behandlungsqualität verbessern. Über eine Million Menschen sind mittlerweile in die DMP eingeschrieben.
Die Idee der DMP wurde aus der Erkenntnis geboren, dass die medizinische Versorgung insbesondere chronisch Kranker nicht zufrieden stellend ist. Im internationalen Vergleich weist Deutschland überdurchschnittlich viele Komplikationen bei chronischen Krankheiten auf, die Patienten sind mit ihren Werten, beispielsweise dem Blutdruck oder dem Blutzucker, nicht korrekt eingestellt. Ein grundsätzliches Problem ist hierbei, dass niedergelassene Ärzte und Krankenhäuser, aber auch Haus- und Fachärzte nicht oder nicht genügend zusammen arbeiten.
Geplant war ursprünglich, pro Jahr vier neue Programme aufzulegen, bisher existieren aber nur drei: DMP Diabetes Mellitus II, Koronare Herzkrankheiten und Brustkrebs. Eingerichtet werden soll noch das DMP Atemwegserkrankungen. Der Aufwand zur Entwicklung eines DMP ist immens, denn zunächst müssen sich Ärzteschaft, Krankenkassen und Patientenvertreter darüber einigen, was die bestmögliche Behandlung der jeweiligen Erkrankung ist. Dazu müssen verschiedene Leitlinien, die für die Krankheit bestehen, abgeglichen werden. Das nimmt der ganzen Angelegenheit viel Dynamik. Ein weiterer Streitpunkt ist die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Chronikerprogramme. Wenn über die Programme die Krankenkassen Wettbewerb betreiben, könnte das die Umsetzung vollends verhindern.
Abgestimmte Zusammenarbeit und individuelle Wahrnehmung
Wettbewerb ist auch aus wissenschaftlicher Sicht umstritten. Wenn die Patienten leitliniengerecht behandelt werden sollen, kann es nur ein gemeinsames Programm für die von dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit in der Medizin festgelegten Erkrankungen geben.
Die Bundesregierung will mit den Chronikerprogrammen medizinische Leitlinien in der ärztlichen Praxis etablieren und die Zusammenarbeit der Mediziner verbessern, ohne dass mehr Kosten für die ambulante Versorgung entstehen. Der Patient wird zum Partner im therapeutischen Verfahren und einigt sich mit seinem behandelnden Arzt auf Behandlungsziele, zum Beispiel ein paar Kilo abzunehmen oder den Zigarettenkonsum einzuschränken. In kleinen Schritten wird die betroffene Person an einen gesünderen Lebenswandel herangeführt. Wie groß die einzelnen Schritte sind, wird zwischen Arzt und Patient verhandelt und in einem Protokoll festgeschrieben. Patienten-Schulungen sind Teil des Programms.
Seit den achtziger Jahren gibt es einen so genannten Risikostrukturausgleich (RSA) zwischen den Krankenkassen. Versicherungen mit junger und gesunder Klientel geben einen Teil ihrer Einnahmen an die Kassen ab, die überwiegend alte und chronisch kranke Versicherte haben. Dieses Instrument wird nun durch die DMP verfeinert. Nicht nur Alter und Geschlecht sind ausschlaggebend, sondern auch noch die Art der chronischen Erkrankung. Dementsprechend haben alle Kassen ein Interesse daran, möglichst viele der Betroffenen in den DMP unterzubringen. Dafür erhalten sie pro Patient aus dem morbiditätsorientierten, also krankheitsbezogenen RSA eine jährliche Pauschale.
Das ist gut für die AOK und schlecht zum Beispiel für die Betriebskrankenkassen, die durch ihre Werbestrategien vor allem gesunde junge Versicherte haben. Aber auch die Techniker Krankenkasse (TK) muss bluten. Dementsprechend wird sie nicht müde, die DMP als nutzlos zu bezeichnen: Aus Sicht der TK sind die DMP in ihrer heutigen Konstruktion enttäuschend. Statt nach dem Gießkannenprinzip zu verfahren, sollten die Programme sich auf diejenigen Patienten konzentrieren, bei denen Behandlungserfolge zu erwarten sind. Zu diesem Schluss kommt ein Gutachten des Instituts für Gesundheits- und Sozialforschung (IGES), das Ende 2004 präsentiert wurde. Und je weniger Patienten sich für das Programm eignen, desto weniger muss die TK an die anderen Kassen zahlen.
Eifrige Zustimmung und harsche Kritik
Zu einem anderen Schluss kommt dagegen die AOK, die zusammen mit der Ärztekammer Rheinland einen Qualitätsbericht erstellt hat. Demnach können chronisch kranke Patienten von der neuen Versorgungsform profitieren. Bereits jetzt können Kassen und Ärzte aus den gewonnenen Daten nachweisen, dass unter der strukturierten Behandlung von Patienten mit Diabetes, Brustkrebs oder Koronaren Herzerkrankungen diese bessere Werte beziehungsweise Operationsergebnisse aufweisen als vor der Einführung der DMP. "Der erste Qualitätsbericht belegt, dass eine strukturierte, an Behandlungsempfehlungen orientierte Versorgung zu messbaren Qualitätsverbesserungen führt", so der Vorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung Nordrhein, Leonhard Hansen. Und diese Verbesserungen seien im Rahmen der DMP erreicht worden, ohne dass der Arzt in seiner Therapiefreiheit eingeschränkt werde. Diese Form der Behandlung führe, so Hansen, die Erfahrungen des Arztes, die persönlichen Vorstellungen des Patienten und die Erkenntnisse klinischer Forschung zusammen.
Bei den nordrheinischen Ärzten scheint es sich herumgesprochen zu haben, dass die Teilnahme an den DMP eine Chance für sie bedeutet, in kooperierenden Strukturen ihren Beruf auszuüben. Mehr als 70 Prozent der Ärzte der beteiligten Fachgruppen nehmen teil, rund 140 Kliniken und circa 320.000 Patienten sind in den drei bisherigen Programmen eingeschrieben.
Der Vorstandsvorsitzende der AOK Rheinland, Wilfried Jacobs, betonte, dass es wichtig sei, gute Strukturen einheitlich anzubieten. Deshalb hätten sich die Krankenkassen des Rheinlandes dazu entschlossen, statt eines Pseudowettbewerbs mit lauter unterschiedlichen Angeboten pro Kasse gemeinsam die DMP einzuführen. Mit Erfolg, denn im Vergleich zu anderen Bundesländern werden zwei Drittel der Zuckerkranken mit dem Chronikerprogramm Diabetes Mellitus Typ 2 erreicht.
Trotz aller positiver Kritik an der eigenen Arbeit sehen Hansen und Jacobs weiteren Verbesserungsbedarf bei den DMP: Der Dokumentationsaufwand und die Einschreibeformalitäten für Patienten seien weiter zu verringern, um möglichst alle betroffenen Ärzte und Patienten in die Programme einbinden zu können. Insbesondere von den betroffenen Frauen mit Brustkrebs ist die Einschreibrate mit 30 Prozent noch weit hinter den Erwartungen zurück.
Kritik kommt indes vom Präsidenten der Bundesärztekammer, Jörg Hoppe. Aus seiner Sicht sind die DMP ein Beleg für die durch politische Vorgaben angestoßene Verschlechterung der Versorgung. "Die DMP, die wir haben, liegen unter dem Niveau, das wir als Ärzte für optimal halten", so Hoppe. Das Interesse der Kassen beruhe einzig auf den morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich, der zu hohen Ausgleichszahlungen zwischen den Krankenkassen führt. Von daher zielten die Programme lediglich auf günstigere Kosten und nicht auf die bestmögliche Patientenversorgung.
Noch ist es zu früh, um den Erfolg dieser auch im englischsprachigen Ausland eingesetzten Versorgungsform zu beurteilen. In jedem Fall muss weiter beobachtet werden, ob diese Programme tatsächlich den Patienten in den Mittelpunkt stellen und nicht, wie von Hoppe befürchtet, einer versteckten Rationierung Vorschub leisten.
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