Jetzt ist er erschienen, aber schon Tage zuvor hatte der Roman Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban vor allem Journalisten zu gehässigen Kommentaren veranlasst: Die Mittvierziger Theresa Kallis und Stefan Jordan hatten einst in Münster Germanistik studiert und als Freunde in einer WG gelebt. 20 Jahre später begegnen sie sich zufällig wieder. Theresa hat zwei Kinder und den Bauernhof ihres Vaters in Brandenburg übernommen, Simon lebt in Hamburg, ist kinderlos und Kulturchef sowie Vize-Chefredakteur von Deutschlands größter Wochenzeitung. Eine ostdeutsche Frau aus der Provinz, wütend auf „die da oben“, und ein westdeutscher Städter, der auch mal drei Gendersternchen in einem Wort unterbringt, beginnen einen Dialog über die
„Deshalb triggert mich das“: Ein Chat über den neuen Roman von Juli Zeh und Simon Urban
Literatur In Juli Zehs und Simon Urbans „Zwischen Welten“ diskutieren eine Ost-Landwirtin und ein West-Journalist miteinander – per Messenger und E-Mail. In der gleichen Form haben Ulrike Baureithel und Sebastian Puschner den Roman rezensiert
Foto: Peter v. Felbert
hienen, aber schon Tage zuvor hatte der Roman Zwischen Welten von Juli Zeh und Simon Urban vor allem Journalisten zu gehässigen Kommentaren veranlasst: Die Mittvierziger Theresa Kallis und Stefan Jordan hatten einst in Münster Germanistik studiert und als Freunde in einer WG gelebt. 20 Jahre später begegnen sie sich zufällig wieder. Theresa hat zwei Kinder und den Bauernhof ihres Vaters in Brandenburg übernommen, Simon lebt in Hamburg, ist kinderlos und Kulturchef sowie Vize-Chefredakteur von Deutschlands größter Wochenzeitung. Eine ostdeutsche Frau aus der Provinz, wütend auf „die da obenXX-replace-me-XXX8220;, und ein westdeutscher Städter, der auch mal drei Gendersternchen in einem Wort unterbringt, beginnen einen Dialog über die Messengerdienste Whatsapp, Telegram, Threema und per E-Mail.Einen Dialog haben auch Ulrike Baureithel und Sebastian Puschner aus der Freitag-Redaktion geführt, über ihre Lektüre des Romans und die Debatte, die nun tobt. Per eMail und Messenger, aber natürlich mit dem sichersten (Signal):Donnerstag, 19. Januar16:25 h > Sebastian per Signal Liebe Ulrike, ich hab noch 160 Seiten des Romans vor mir, saß gerade viereinhalb Stunden im ICE, hab davon nur gut 30 geschafft! Es ist furchtbar, ich hing die ganze Zeit am Handy: Messenger, E-Mail, Twitter – eigentlich hab ich heute Urlaub, aber dann meldete sich der Presseclub: die wollen gern jemanden vom Freitag am Sonntag in der Sendung, weil es sonst kaum eine Zeitung gibt, die die Panzer-Lieferungen an die Ukraine sehr kritisch sieht. Doch bei uns sind alle entweder am Sonntag verhindert oder sie wollen sich nicht mit Paul Ronzheimer von der Bild in die ARD setzen, um danach einen Shitstorm für ihre Position zu kassieren. Zwei Drittel der Deutschen sehen die Leopard-Lieferungen aber doch kritisch!! Lauter potenzielle Freitag-Leser. Es ist zum Verzweifeln! Du willst nicht? Sie hätten am liebsten eine Frau, denn bisher haben wohl nur Männer zugesagt.16:48 h > Ulrike per SignalNee, Panzer sind nicht mein Thema, obwohl ich über viel labern kann. Aber solche „Urlaubstage“ kenne ich auch.16:57 h > Sebastian per Signal Hab ihnen vorgeschlagen, sie sollen Juli Zeh einladen, als Frau, die gegen Waffenlieferungen ist. Aber die ist dem Presseclub wahrscheinlich zu wenig Journalistin.17:12 h > Sebastian per SignalIch bin gerade in Bayern in eine Straßenbahn gestiegen, Ulrike – herrlich! Hatte ganz vergessen: Hier gibt’s keine Maskenpflicht mehr in Bussen und Bahnen, also muss ich nicht mehr überlegen, ob ich jemanden verängstigen würde, wenn ich keine Maske tragen würde. Zeh-Fan bin ich spätestens seitdem ich nach einigen Monaten Corona-Pandemie Corpus delicti las…17:22 h > Ulrike per SignalErst so spät?17:24 h > Sebastian per SignalIch finde ja, in ihrem neuen Buch kommt Corona viel zu kurz.17:42 h > Ulrike per Signal Ja, stimmt. In Berlin fallen auch bald die Masken. Zehs Skepsis im Hinblick auf die Präventions- und Überwachungsgesellschaft teile ich durchaus, aber ich habe auch was gegen ihr liberales Freiheitsgewäsch. Dir schöne Tage in Bayern!18:21 h > Sebastian per Signal Ich finde ja nur bemerkenswert, dass über die Corona-Politik nur noch die reden wollen, die aus der Angststarre nicht rauskommen, und die, die tun, als würden wir seit drei Jahren in einer Diktatur leben. Sonst ist da großes Schweigen – Juli Zeh könnte da einiges an literarischer Aufarbeitung liefern. Aber wir wollten ja über Zwischen Welten reden, sag mir doch mal: Wie hat es dir gefallen?18:33 h > Ulrike per Signal Gemischt. Wenn mir Redaktionsblasen angedient werden, zumal so saturierte wie bei Stefan in Hamburg, krieg ich schon ein bisschen das Würgen. Die toughe Bäuerin mit dem relaxten Münsteraner Uni-Hintergrund (ausgerechnet Münster!) hab ich Zeh und Urban am Anfang auch nicht so recht abgenommen. Es wirkt alles so konstruiert! Morgen mehr, hundemüde und leerer Magen und keiner hat gekocht.18:39 h > Ulrike per SignalSo nebenbei: Wir haben in einem Seminar zu Interviews mal einige mit Zeh gelesen. Die Studis stellten fest: Immer die gleichen Worthülsen. Immer die gleichen Fragen …20:07 h > Ulrike per MailNoch mal. Hab also ein bisschen gewürgt. Romane leben vom Kontrastieren, keine Frage. Hier die Bäuerin aus dem Osten, die es in den Westen verschlagen hatte, dort der toughe Typ – und wir wissen nicht, woher der kommt. Hat er Geld? Ist er ein Aufsteiger? Stefan hat keine richtige Vergangenheit. Oder habe ich was überlesen?Freitag, 20. Januar9:15 h > Sebastian per MailIrgendwas war doch da – jetzt habe ich es gefunden, Seite 42, da sagt Stefan was über seinen Vater, „ein prototypischer Self-Made-Unternehmer des heiligen deutschen Mittelstands“ aus Essen. Du hast aber recht: Bei Theresa geht’s viel mehr um die Vergangenheit, bei Stefan kaum. Vermute Absicht: Die, für die Theresa steht, leben ja angeblich im Gestern, während Stefan der grandiosen, gerechten, woken Zukunft entgegenträumt.11:oo h > Ulrike per Mail Warst du mal in der Prignitz? Kennst du ein Dorf wie das von Theresa, 80 Kilometer westlich von Berlin, 451 Einwohner, 28 AfD-Wähler? Eine ehemalige LPG, umgewandelt in eine Genossenschaft, größte Arbeitgeberin im Dorf? Ich wette, du kennst dich mit Stefans Arbeitsplatz besser aus, Redaktion der größten Wochenzeitung in Hamburg, Traum eines jeden Kulturjournalisten, da Chef zu sein ...11:11 h > Ulrike per Mail... Cappuccino-Milieu, garantiert Fairtrade – und eine Schlangengrube … Ich muss los ins Seminar!15:57 h > Sebastian per Mail Ich war schon in der Prignitz, aber mir sind andere Gegenden Brandenburgs näher, verbringe da oft ’nen Teil der Woche auf dem Dorf. Drum mag ich Unterleuten, Über Menschen, jetzt Zwischen Welten – Zeh weiß, wovon sie schreibt, und anscheinend sehen das die Leute in dem Dorf in der Prignitz, wo sie seit vielen Jahren lebt, genauso. Stand jedenfalls in dem großen Porträt im Zeit Magazin neulich.16:59 h > Sebastian per Mail Aber von wegen Journalistentraum: Mir wäre Theresas alte LPG ja tausendmal lieber als die Redaktion, in der Stefan arbeitet. Alter Schwede, bei manchen seiner Passagen trieb es mir den Puls schon hoch: so gestelzt, so voller Selbstüberschätzung, einsam in seiner akademischen Blase.Samstag, 21. Januar8:53 h > Ulrike per Mail Mal zum Konzept: Nicht so ganz neu, in jeder Epoche simulieren Schriftsteller:innen die sie prägende mediale Wirklichkeit, kennen wir seit dem Briefroman. Am Anfang fand ich das ein bisschen nervig, man muss sich drauf einlassen. Ein konzeptionelles Problem besteht darin, dass die beiden Figuren in ihren Nachrichten die ganzen Infos nachreichen müssen, die der/die Leser:in braucht, um überhaupt in die Geschichte zu kommen. So was wäre in der Realität nicht notwendig, und das verlangsamt die Geschichte an manchen Stellen, vor allem zu Beginn. Wie war dein erster Leseeindruck?14:05 h > Sebastian per Signal Hab mir auf den Schenkel geklopft. Den Grundkonflikt gibt’s wohl mit Abwandlungen in jeder Redaktion – jung, woke, aktivistisch gegen alt, männlich, traditionell. Ob’s bei der Zeit zugespitzt wie im Buch läuft?14:12 h > Ulrike per Signal Die Debatte über journalistischen Aktivismus hat mich angefixt, das kennen wir ja auch bei uns. Vertragen sich Journalismus und Bewegung? Die „feindliche Übernahme“ durch die beiden frechen Klimaaktivist:innen brachte das ganze Ungemach ja ins Rollen. Wobei Theresa nicht zu Unrecht sagt: „Mann, habt ihr Sorgen!“14:40 h > Ulrike per Signal Apropos: Stelle mir gerade vor, wie du auf einem Ökohof um 3 Uhr morgens 200 Kühe melkst und die Ställe ausmistest ...16:57 h > Sebastian per Signal Genau deshalb triggert mich das Buch: Stefan kennt nix anderes mehr, als den Rest der Welt von seinen Überzeugungen, nein von den Überzeugungen der woken Aktivist*innen, die sie sich in die Redaktion holen, zu überzeugen. Theresa dagegen hat handfeste Probleme und sagt den Städtern zu Recht: „Ihr wollt bio, nachhaltig und lokal essen, habt aber keine Ahnung, wie denen, die ihr dafür braucht, das Wasser abgegraben, das Land weggekauft und das Leben schwergemacht wird.“ Beim Presseclub haben sie jetzt die Gäste zusammen, Freude: Hatte Eric Bonse empfohlen, der schreibt ja auch für uns. Darf morgen gegen drei über Panzer debattieren ...17:27 h > Ulrike per Signal Ja, und Theresa wirft dem Egomanen Stefan vor, über „echte Dinge“ schriebe er sowieso nicht. Frage: Ist symbolische Repräsentation – also im Sinne von Gendersternchen etc., mit denen er sie traktiert – nichts „Echtes“? Theresa ist ja auch ziemlich hellsichtig, sieht voraus, dass Leonie, die Aktivistin, die sich die Redaktion ins Blatt geholt hat, sie alle zerstören wird.Sonntag, 22. Januar9:38 h > Sebastian per Signal Ulrike! Der Roman geht in der Realität weiter!! Es ist, als sei Oliver Nachtwey ihm direkt entstiegen. Zeh und Urban haben derNZZ ein Interview gegeben, Link schick ich dir gleich. Nachtwey schreibt dazu:8:41 h > @onachtwey per Twitter In Deutschland entsteht ein neues politisches Lager, das quer zur traditionellen Rechten und zum Konservatismus steht: Anti-Woke, Corona-Skeptisch, Angst vor kultureller Überfremdung und für „Diplomatie“ im Ukraine-Krieg. Das Lager ist nicht homogen, aber teilt aus meiner Sicht diese vier Merkmale und positioniert sich vor allem als Kulturkampf gegen alle Formen des (Links-)Liberalismus. Es gibt auch ein relativ grosse Spannbreite: Sie reicht von Juli Zeh, Sahra Wagenknecht über Ulf Poschardt bis hin zu Andreas Rödder. Das ist noch nichts fest, aber die Vektoren zeigen alle in die gleich Richtung.9:55 h > Sebastian per SignalWir kommen auch vor:8:56 h > @FogelVlug per Twitter Und in der Presselandschaft drehen die, die mit Konfliktreproduktion ihre Auflage stabilisieren, verlässlich ihr Fähnchen danach (Zeit und Freitag würde ich zum selben Komplex zählen, wenn auch nicht unbedingt als Partei) 10:01 h > Ulrike per Signal Ach, herrje, welch luzide Analyse! Konfliktproduktionsmaschine.10:10 h > Sebastian per SignalIch war ja bis zuletzt unschlüssig, ob ich das Buch wirklich so gut finde, weil es dann doch oft so holzschnittartig und klischeehaft ist – aber dann machste Sonntagmorgen um 9 Twitter auf und siehst: Es ist so! Nix Holzschnitt! Jede Kritik an der Beschneidung der Grundrechte wegen Corona = „Corona-skeptisch“, Diplomatie in Anführungszeichen (!) und dann noch „Angst vor kultureller Überfremdung“. Ohne einen Satz aus dem Buch gelesen zu haben den Shitstorm losrollen lassen. Ich komme mir vor wie Stefan, als er voll im Schock über den Shitstorm gegen seinen Chefredakteur, der als Rassist gebrandmarkt wird, Theresa einen Twitter-Tweet nach dem anderen weiterleitet.10:17 h > Ulrike per Signal Ja, die Diskursdeformation ist beängstigend.10:21 h > Sebastian per SignalTheresa antwortet ihm da ja dann, man solle und dürfe so was nicht lesen. Tatsache. Selbst schuld. Sonntagmorgens um 9 Twitter!10:32 h > Ulrike per SignalEine gewisse Ignoranz gegenüber sozialen Medien ist sicher nicht ungesund, Sebastian. Ich würde mir sonntagmorgens jedenfalls keinen Shitstorm antun.11:20 h > Sebastian per SignalTwitter läuft heiß. Ich bin jetzt dann bei einer Familienfeier – und dann im Zug.16:57 h > Ulrike per SignalBist du wieder da? Habe mich ja gefragt, warum Theresa und Stefan immer weiter schreiben, obwohl ihre Positionen unvereinbar sind und auch als Personifikation von Diskursverweigerung fungieren.17:34 h > Sebastian per SignalIch wünschte, es sei eine Übung in Ambiguitätstoleranz. Fürchte, es ist profaner: Er war immer in sie verknallt, träumt sich aus seiner einsamen Gegenwart zu ihr. Und für sie ist es auch der Reiz, aus Alltag und ihrer Beziehungskrise auszubrechen. Übrigens ist „Juli Zeh“ jetzt Trend bei Twitter. PR-Strategie mit NZZ-Interview scheint aufzugehen ...
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