Leick schafft es regelmäßig, seinen Interviewpartnern nahrhaften Gedankensaft zu entlocken. Die Interviewführung zu analysieren wäre sicher auch interessant. Hier Auszüge und Gedanken dazu:
Houellebeq: Ich glaube, dass ein historischer und politischer Zyklus, der mit der Französischen Revolution 1789 begann, sich dem Ende zuneigt. […]
Der Rationalismus wird von immer mehr Menschen als erstickend empfunden. Es gibt eine spirituelle Macht, die noch aktiv ist und sogar wieder erstarkt. Das lässt sich am Erfolg gewisser Bücher und Filme wie „Herr der Ringe“ ablesen. Der Atheismus weicht zurück, er stirbt an seinen eigenen Zweifeln. Ich teile die Ansicht des Philosophen Auguste Comte, dass eine Gesellschaft ganz ohne Religion nicht fortbestehen kann. Ihr droht die völlige Desintegration. Religiöse Werte und Normen, die soziale Ordnung stärken, wirken angstlindernd und entlastend auf den Einzelnen.
Kommentar Dersu: Die Religion der Demokratie hieß zuletzt immer „Fortschritt“. Das funktioniert gerade nicht. Gentechnik, Kernkraft, Freihandel – wir glauben nicht daran, dass uns das hilft. Neben „Herr der Ringe“ als Beleg für zunehmende Spiritualität könnte ich Star Trek als Beleg für den schwindenden Positivismus anführen. Neulich versuchte ich „Star Trek – Into Darkness“ zu schauen – Terrorschlag, ballernder Bösewicht usw., ich hielt es nur eine halbe Stunde aus. Die humanistischen Monologe des Ex-Captains Jean-Luc Picard (1987-94) hingegen trieften von hoffnungsvoller Botschaft.
Wenig später schwenkt das Thema im Interview von dem, was schwindet, zu dem, was dafür kommt. Wiederkommt.
Leick: Konfrontiert mit der Welt der Natur und dem gestirnten Himmel über Ihnen, fühlen Sie sich dem Schöpfer nahe?
Houellebeq: […] in der Stadt sind wir nicht so intensiv in Berührung mit der Schöpfung, wie das am Anfang vorgesehen war. Die Erfahrung der Einsamkeit im Angesicht der Schöpfung führt uns auf eine ganzheitliche Betrachtung des Universums und auf eine theistische Vision der Welt zurück.
Kommentar Dersu: Da es uns zurück führt, kann ich ein Zitat aus Astrid Lindgrens Bullerbü anführen: „Ich lag noch so lange wach und hörte, wie es im Wald rauschte. Es rauschte nur etwas. Und kleine Wellen schlugen gegen den Strand, leise, ganz leise. Es war alles so seltsam – plötzlich wusste ich nicht, ob ich traurig war oder froh. Ich lag da und versuchte zu fühlen, ob ich traurig oder froh war, aber ich bekam es nicht heraus. Vielleicht wird man vom Schlafen im Wald ein wenig wunderlich.“
Ja, das kennen wir, ist das nun wunderlich oder normal?
Kommentare 15
Die Integrationskraft der bürgerlichen Gesellschaft läßt nach. Da ergibt sich für viele zwangsläufig die Alternative, nach rechts oder nach links abzubiegen. M. Houellebecq hätte sich, wenn er schon auf Kinderbücher (-filme) zurückgreift, statt auf märchenhaften Bedeutungskitsch (Herr der Ringe) besser auf Lindgren bezogen, auf Carroll oder um in der ihm naheliegenden Tradition zu bleiben auf Queneaus kesse Zazie (kongenial verfilmt von L. Malle), der anstelle des Schlafens im Wald das Schlafen im sich als Spelunke entpuppenden Nobelrestaurant passiert, die sich auf spielerisch-fantastische Weise die Komplexität (von Freiheit und Zwang) der modernen Sozialwelt aneignet wie man eine tiefe Naturerfahrung, treffend als wunderlich beschrieben, machen kann oder aus der das Fremde vernichtenden Entfremdung zurückgewinnt. Da ist kein Gegensatz. Wir brauchen die Befremdung wie die Beheimatung. Ich befürchte, Houellebecq sucht sein und unser Heil in der heiligen Einfalt, ein Weg, vor dem man dringend abraten muß.
Vielleicht ist es meine Schuld, ich habe ein bisschen zackzack den Eintrag fertiggestampft. Das Zitat aus Bullerbü, dem grandiosen Kinderbuch von Astrid Lindgren, habe ich angeführt. Das Wunderlichgefühl wird einem Kind in der Ich-Erzählperspektive in den Mund gelegt. Wenn es infantil wirkt, wäre das nur konsequent. Aber ich meine auch: wenn ich heute allein im Wald schlafe, geht es mir nicht wesentlich anders. Das Gefühl ist genauso wie als Achtjähriger, die Erfahrung hat aber den festen Glauben entstehen lassen, dass nix schlimmes passiert. Über den zurückkommenden Wolf denken wir mal nicht nach... Oder ist gerade er auch ein guter Spiegel des Zeitgeists, den Houellebeq meint? Gefühle wie im Kindesalter finden mehr den Weg in dem Mainstream, und der Wolf, Märchenbösewicht Nummer 1, ist zeitgleich dabei.
Ich sehe Houellebeq nicht so sehr rechts, wie es manche tun. Er sagt: „Es gibt eine spirituelle Macht, die noch aktiv ist und sogar wieder erstarkt.“ Diese Macht ist in Unterwerfung der Islam, sie könnte sich genauso auch anders manifestieren, der Katholizismus wurde als Alternative meiner Erinnerung nach genannt im Interview. Die Häufung von Themen des Komplexes „Goott und die Welt, mit oder ohne?“ (Oder „Können Pflanzen fühlen?“) in der FC ist manchem aufgefallen, wenn der Hype auch ein bisschen vorbei zu sein scheint
Wenn die Antworten nahrhafter sind als die Fragen, spricht das für einen guten Interviewer. Finde ich. Da kommen die Gesprächspartner auch gerne wieder.
Populärkultur als Beleg für irgendwas heranzuziehen ist immer fraglich. Trotzdem gut, der Leser weiß eben schnell, was man meint. Oder auch nicht, aber es finden sich ehr Leser, die sich dem Schreiber verbunden fühlen. Zitate, die man kennt, schmeicheln dem Leser.
Kürzlich wurden in Syrien antike Ruinenstätten zerstört – im Westen kommt laute Kritik. Weil wir uns dieser Zeit verbunden fühlen, weil wir eine Bedeutung darin sehen. Werden muslimische Prophetenschreine einer früheren Epoche zerstört, juckt es keinen hier. Die Boomzeiten antiker Hollywood-Schinken (Lawrence von Arabien etc.) sind meinem Empfinden nach aber vorbei, ein bisschen Troja läuft immer noch gut, okay. Soweit zur Beweiskraft von Populärkultur. Interessant ist es allemal.
Supertoll! Danke für den Tipp. Kam noch gar nicht dazu es zu lesen, da diese Woche einfach nur 24/7 total trench warfare war. Projektübergabenahkampf total. Einzig das großartige Joseph Vogl Interview hatte ich bisher gelesen.
Romain Leick über Houellebecq ist der Wahahahnsinn. So so toll. Phänomenal wie er ihn beschreibt, sein Rauchen ... man glaubt förmlich ihn vor sich zu sehen, wenn man das liest. Und dass er sagt, Houellebecq sei der aufregendste Schriftsteller, das stimmt. Er hat recht, finde ich. Gila Lustiger schwärmt auch von Houellebecq und sagt beispielsweise, er sei der einzige französische Gegenwartsautor, der sich tatsächlich mit politischen Fragen und der Gesellschaft als Ganzem beschäftige.
Leick sagt das im Prinzip ja auch in seiner Einleitung, »... sein Thema sind die gesellschaftlichen Katastrophen, die Liberalismus und Aufklärung seiner Meinung nach angerichtet haben.«
Von Leick habe ich eigentlich bisher kaum etwas gelesen. Wie konnte das passieren? Nur seinen Text über die Tagebücher von Hélène Berr, den ich toll fand, der, in dem er am Ende mit dem Rimaud Zitat rausgeht, »Aus Feingefühl habe ich mein Leben verloren«; das trifft irgendwie auch auf Houellebecq zu, finde ich. Ach, menno, jetzt würde ich gern noch so viel schreiben, muss aber zu so einem blöden Essen mit lauter Oberbesserwisserexperten. Gottogott es werden qualvolle Stunden, wie stehe ich das durch? Würde jetzt viel lieber weiter über Houellebecq schreiben. Menno. Life is cruel. :-P
Die Zustimmung kann ich nicht annehmen, denn sie geht an meiner Kritik vorbei. Äußerlich (nur äußerlich?) hat hier ein Literat die Seiten gewechselt, spielt eine Beckettsche Figur, damit trägt er zur Komplexität der Moderne bei. Nein, mir geht es um die inhaltliche Ebene. Ich bestreite nicht Houellebecqs Intellektualität und Kunstvermögen. Und er darf gerne wie Botho Strauß oder Peter Handke konservativ sein. Wenn es nicht regressiv ist, ist das Konservative durchaus bereichernd. Nun, vielleicht würde mich eine Lektüre seines neuesten Werks zur Einschätzung bringen, daß es reine Ironie ist. Dann nehme ich alle Kritik zurück.
Zweifel? Aber ja doch. An dieser Stelle stimme ich mit Houellebeq überein:
Leick: Würden Sie selbst gern an Gott glauben? H: Ja L: Aber es gelingt Ihnen nicht? H: Nicht oft. Ich sage mir, es wäre besser, einfach zu glauben und aufzuhören, darüber nachzudenken. Aber das schaffe ich nicht. Das geht wahrscheinlich den meisten so. So gesehen ist der Agnostizismus ein Tribut an die intellektuelle Ehrlichkeit.
Ob das den meisten so geht? In meinem persönlichen Bekanntenkreis bestimmt, aber weltweit, oder nur europaweit? Wenn Sie nicht zweifeln an der Nichtexistenz Gottes beneide ich Sie ein wenig darum. Um die Einsamkeit dabei beneide ich Sie allerdings nicht. Dass eine angstbefreite Gesellschaft möglich ist, glaube ich allerdings nicht. Oder besser, dass angstbefreites Menschsein möglich ist, glaube ich nicht, es sei denn um den Preis der Gefühllosigkeit. Das wäre dann nicht mehr meine Idee von Menschsein. Der Mensch und die Angst und die Gesellschaft – die Gesellschaft dient den Menschen dazu, ihre Angst zu managen, wer keine Angst hat, kommt auch eher ohne Gesellschaft aus. Angst wird auch für Herrschaft gebraucht und missbraucht, das ist wahr.
Leick ist im Printspiegel öfter mal als Interviewer dran, er hat natürlich auch dankbare Gegenüber, die prägnante Thesen bringen, Piketty oder Sternhell beispielweise, googeln bringt noch mehr. Dass Personifizierung journalistisches Basic ist und man als Spiegel-Journalist viel leichter an dieses Futter kommt als als Freitager, ist natürlich klar.
Das Vogl-Interview war auch gut, hat mich aber nicht geflasht. Es kitzelte eben die Rationalität, Houellebeq kitzelt auch auf spirituelle Weise. Es wirkt, also ist es. Es nervt leider enorm, dass sich rationale Kritik am System viel leichter formulieren lässt als eine grundlegende Besserung. Die andere Gesellschaft (genau die) scheint mir am emotionalen Menschen zu scheitern. Es sei denn, die Transparenz (also die Überwachung) ist umfassend. Bisherige andere Gesellschaften begannen irgendwie immer mit der Ausmerzung der Anderen. Mit der Androhung totaler Überwachung könnte das vielleicht sogar unterbleiben. Aber das ist nicht sexy.
Ein anderes Leick-Interview, mit derKulturwissenschaftlerin Christina von Braun. Die Rückkehr des Spirituellen als Folge von Geldkrise:
Braun: Das Geld hat, grob gesagt, drei Ursprünge, […]. Der eine Ursprung ist der materielle Wert: Grund und Boden, Naturalien wie Getreide oder Vieh, Gold oder ein anderes Edelmetall. Der zweite ist ein Herrscher oder eine Gemeinschaft, der Kaiser oder die Polis, eine Instanz, die das Geld emittiert und den Wert einer Währungseinheit beglaubigt. Und der dritte Ursprung ist religiöser Natur: Er liegt im Opfer, das den Göttern im Tempel dargebracht […]
SPIEGEL: Wenn alle materiellen Deckungen des Geldes, aber auch die staatliche Autorität als Beglaubigungssystem sich letztlich als Illusion erweisen, was ist dann mit dem dritten Ursprung, dem Opferkult? Wollen Sie behaupten, dass diese Form der Geldbeglaubigung noch immer nachwirkt?
Braun: Auf genau diesen Punkt will ich hinaus. Gerade weil die beiden anderen Beglaubigungsformen immer weniger funktionieren, verstärkt sich das Verlangen nach der sakralen Deckung des Geldes in Opferriten, […]
[…] Die Domestizierung von Natur und Sexualität war und ist Voraussetzung für die Fruchtbarkeit des Geldes.
[…] Mit seinen Opfer- und Inkarnationslehren bot die Heilsbotschaft des Christentums das ideale kulturelle Terrain, auf dem sich die Logik des Geldes weiterentwickeln konnte
[…] Die einzige Deckung, die das Geld noch hat, ist der menschliche Körper.
[…] mit Arbeitslosigkeit, Entzug ihrer Behausung und sozialer Ausgrenzung. Man kann diese menschlichen Katastrophen als Begleiterscheinungen von Krisen sehen. Man kann in ihnen aber auch die moderne Beglaubigung des Geldes durch das Opfer erkennen
Schau mal hier, Houellebecqs, die Währung. Bekam ich heute von einer Freundin geschenkt,Bestechungsgeld. Hihi. Aber es funktioniert! Es ist so schön, oder? Einfach genial. Danke für die tollen Links, werde morgen versuchen etwas angemessenes dazu zu schreiben. Grüße :-P
https://lh3.googleusercontent.com/-M2IuCA2owSI/VP4kCy3epEI/AAAAAAAAA5g/fSZYgq7JZU4/w970-h545-no/70a04465-a70f-4abd-acb8-b37cca493c9fhttps://lh5.googleusercontent.com/-44CppyZ9oQw/VP4kCyFIYKI/AAAAAAAAA7Q/hyKZ3ubfyTk/w970-h545-no/4646a7f0-9777-484b-ab30-4bb4a298e76a
Ja, sehr schön. Erschaffen für den Götzendienst.
Einen weiteren Goldkrümel von Leick habe ich gefunden. Es sieht hier so aus, als hätte Leick im März 2003 die Zukunft besser eingeschätzt als sein Gesprächspartner. So far…
Todd: […] Der wahre, fundamentale Antagonismus, der dahinter zum Vorschein kommt, ist der heraufziehende Konflikt zwischen der Wirtschaftsmacht Europa und der Militärmacht Amerika. Leick: Da kann es doch kaum Zweifel geben, wer daraus als Sieger hervorgehen wird. […]
Leick: […]Sind Sie jetzt nicht dabei, am Beispiel Amerika einem schwarzen Geschichtsfatalismus zu erliegen? Todd: Sie haben Recht, es gibt keine Fatalität in der Geschichte. Vielleicht beruhigen sich die Regierenden in den USA wieder, vielleicht bleibt Bush eine Episode, vielleicht findet Amerika zu sich selbst zurück, zu seiner Demokratie und seiner wirtschaftlichen Umstrukturierung...
Aaaaah, Todd. Die französischen Intellektuellen, die haben schon was. Eine aktuellere Selbsteinschätzung seiner Welteinschätzung von 2002: "[...] Aber ich habe auch von der Emanzipation Europas unter deutsch-französischer Führung geschwärmt. Das ärgert mich heute. Ich habe nicht gesehen, dass unsere eigentliche Bedrohung in einem deutschen Europa lag."
Menno, ich will auch Geschichte und Anthropologie studieren; außerdem Französisch als erste Fremdsprache. (;
deutsch-französische Befindlichkeiten, continued. Noch ein gutes Interview mit Emanuel Todd.
Interessant: „Zum Beispiel: ohne jede vorherige Abstimmung, wenn doch diese Frage ein ganzes Kontinent betrifft, entscheidet sich Deutschland, auf die Atomenergie zu verzichten. Diese Politik setzt ein strategisches Verständnis mit Russland voraus das niemand, vor allem nicht die Grünen, in der öffentlichen Debatte erwähnt.“ – Allerdings geht an der Stelle gerade etwas nicht gut auf.
Hier stimme ich ihm nicht zu: „Für die Deutschen ist es selbstverständlich, Kulturen als unterschiedlich, versehen mit unterschiedlichen wirtschaftlichen Befähigungen, zu denken.“ – Für manche Deutsche, okay. Aber irgendwann ist das Modell, alles auf die Vererbungsnormalität „der erste Sohn bekommt alles“ zurück zu führen, auch ausgelutscht. Die zunehmende Anzahl von der Übernahme des Familiennamens der Ehefrau könnte er mal betrachten, oder das tatsächliche Vererbungsgeschehen.
In Linie mit Hoellebeq ist er dann hier: „wir sind von einer willigen Unterwürfigkeit zur einfachen Unterwürfigkeit gelangt. Aber solch eine Evolution ist für die Regierung gefährlich, weil die gesellschaftliche Unterstützung einer solchen Politik auf sehr enger Basis ruht, auf einer Kaste von maximal 1%, und nicht mehr auf einer Schicht von 20-30%, die den harten Kern des Jas zu Maastricht ausmachte. Man beschuldigt immer die Sozialistische Partei, die Volksklassen fallen zu lassen, aber die Rechte ist dabei, sich von den Mittelklassen zu trennen.“
***** :-D
Ahha, mon dieu, alors. Faire encore ... oder so ähnlich. When in doubt, do it. ...
Hey, ich komme mir dem Lesen gerade nicht mehr hinterher ... anbei noch ein Text über deutsche Befindlichkeiten, den ich interessant fand » ... an incisive account of how Germans have fashioned and refashioned their identity out of the materials bequeathed by the past«, eine Besprechung von Neil McGregors »Germany«-Buch.
Oh pardon, mes enfants. Voilà. \o/
Ja, lesenswert. Spekulation über die Wirkung von Geschichte finde ich allerdings prickelnder als nur die Darstellung der Geschichte, der Erinnerung. Von daher ist Todd für mich interessanter als MacGregor, allerdings auch fehlbarer.