Protest wählen

Aufsteigend: Abstieg Da fragt mich einer, warum haben nicht mehr Menschen AfD gewählt. Das frage ich mich auch. Dringender jedoch: warum haben so viele Menschen AfD gewählt? 24&15&13%

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Mal ganz vom Grunde an: Das gesellschaftliche System ist dann beliebt, wenn es Aufstiegschancen für nicht nur wenige gibt, wenn Hoffnungen atmen können, wenn sich Hoffnungen erfüllen. Der Gesamtumfang, der zu verteilende Kuchen, muss allerdings immer weiter wachsen, ansonsten ist die zweite Wahrheit zwangsläufig: wo es Aufsteiger gibt, gibt es auch Absteiger. Der Kuchen in Europa wächst nicht, in Deutschland vielleicht noch ein bisschen, weil die Krümel von den Rändern Europas abgekratzt werden. Das bisschen Wachstum in D wird allerdings zu denen hingeschoben, die schon viel Kuchen auf dem Teller haben… Flüchtlinge sind erstmal nur weitere Konkurrenten um die Krümelteller der Abgehängten.

Nicht erst seit gestern wissen wir: der Countdown der demografischen Schubumkehr tickt, wenn in 30 Jahren nur noch 65 Mio Menschen in Deutschland leben, schrumpft der Kuchen definitiv. Es gibt auch weniger Esser, klar, aber das System ist auf die Umstellung nicht vorbereitet. Wer sich an Aufstieg gewöhnt hat, empfindet den stillstand als Abstieg. Die etablierten Parteien sehen Zuwanderung als Konzept zur Lösung. Ich glaube auch, dass viele Bürger da mitgehen, sieht man auch an den Wahlprozenten, aber: Flüchtlinge sind nicht Zuwanderer. Ob die Straßenjungs aus Marokko kommen oder Krankenpflegerinnen aus Syrien ist ein Unterschied, nicht wahr. Die mangelhafte Differenzierung zwischen Flüchtlingen und Zuwanderern und die daraus folgenden Unterschiede in der Bedeutung für die Entwicklungsperspektive fallen so langsam jedem auf.

Eine andere Lunte ist die Frage, ob Investitionen, beispielsweise kapitalbildende Rentenversicherungen, ihr Investment zurückbringen. Die Leute haben sich ja vielleicht schon gedacht, dass man sich nicht nur auf die Kinder verlassen kann – aber kann man es auf die Rechtssicherheit? Innerhalb Europas ist die Rechtsicherheit hoch, die demografische Entwicklung aber ähnlich. In Richtung Ausland schwindet Rechtsicherheit, umso mehr, wenn der Dollar (Euro-Dollar) nicht mehr Leitwährung sein wird. China ist nun mal da, groß und stark ist es auch, wenn die Russen sich nach China orientieren, ist der China-Wirtschaftsraum noch größer. Switchen wir einfach zu den Russen? Da hat der Ami entschieden was dagegen, was uns nicht egal sein kann. Und Dollars waren bisher nicht zu verachten. F16 und Co schon gar nicht…

Ich schweife ab. Der Gesellschaftsvertrag ist der Punkt. In bestehender Form funktioniert er nur mit Wachstum. Abstiegschancen werden exportiert (und Autos auch). Das lassen sich die anderen nur begrenzt gefallen. Sie gehen fort, kommen her; sie schießen, vornehmlich auf andere Betrogene im eigenen Land… Ein nicht unwesentlicher Teil des Gesellschaftsvertrages lässt sich bei der Rentenregelung ablesen. Es gibt ein Umlageverfahren und ein Kapitaldeckungsverfahren. Die Folgegeneration zahlt für die Alten, oder die Kapitalerträge müssen es bringen. Kapitalerträge entstehen dadurch, dass anderswo in der Welt Menschen mit dem Kapital arbeiten und Erträge teilweise überweisen. Das läuft irgendwie nicht mehr so rund, daraus muss man schließen: Auch anderswo wächst die Menschenzahl nicht beliebig, auch anderswo werden die Leute nicht dümmer, auch anderswo sinken die Wachstumspotentiale, die durch Umwandlung von Naturraum in Menschenraum entstehen. Die zuwachsstärksten Volkswirtschaften sind momentan nicht so recht im Dollar-Raum. Renminbi kann man zwar in Dollar tauschen, aber den Kurs bestimmt die chinesische Volksbank. Auch fehlen vielerorts (etwa in Afrika) die Ertragsbasis und/oder die Rechtssicherheit. Die niedrigen Zinsen sind ein klares Indiz dafür.

In der Schweiz wurde der Vorschlag in einer Volksabstimmung, Managergehälter zu begrenzen, abgelehnt. Das bestätigt in meinen Augen: die meisten Leute sind mit einer systemimmanenten Ungerechtigkeit einverstanden – solange sie nicht (dauerhaft) den Abfall durchsuchen müssen. Die wissen schon, dass irgendwo jemand blutet. Ja, auch ich kann offenbar damit leben, muss ich ja sowieso; ich weiß auch, dass wenn die Schweizer mal eben von Wölfen zu Lämmern würden, die Welt insgesamt nicht belämmerter wird.

[Der Mensch beklagt den Rausch, der Mensch will aber auch Rausch. Der Durchschnittsdeutsche trinkt jeden Tag ein Bier. Wer jeden Tag Alkohol trinkt, ist suchtgefährdet. „Ja, so sind die Menschen“, benennen es die Grimms, als der Müller dem Wolf die Tatze bepudert.]

Aufstiegschancen, Abstiegschancen. Die Balance zwischen diesen beiden Lebensrichtungen hat sich verschlechtert in Deutschland. Die geringeren Aufstiegschancen werden nicht gleichmäßig verteilt, es werden nur größere Personenkreise vom Aufstieg ferngehalten (im Osten mehr als im Westen). Wenn das kein Grund ist für Politikunzufriedenheit, das Wählen linker Parteien hat sich außerdem als absolut wirkungslos herausgestellt. SPD - haben gespielt wie Flaschen leer. (!) Jetzt werden also die nächsten angeprobt, eine Alternative, ob nur als Drohung oder in echt wird sich zeigen. Dass sie die Grenzen besser abriegeln würden, mag ich denen ja glauben. Aber dass sie das Verteilungsproblem angehen werden? Für mich sieht es nicht so aus. Sehen andere auch so.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dersu Usala

Gefangen im Bewusstsein des Unlösbaren, zu lösen nur durch Lösen vom Bewusstsein.

Dersu Usala

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