Salman Rushdie, Grimus, 1975

Das zweite Lesen Ausgedachtes kommt vor. Raumschiffe kommen nicht vor. Vögeln kommt vor. Vögel machen gute Metaphern. Schaue zu Gott, und du siehst Vögel. Grimus - Simurg - Phönix

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Flapping Eagle ist ein Hochlandindianer, geboren in einer isolierten Gesellschaft, als Waisenjunge, der seiner Mutter bei der Geburt das Leben kostete. Born-from-dead wird er genannt. Merkwürdig weiße Haut hat er auch noch, so dass er als Außenseiter lebt. Das Geburtsjahr ist irgendwann im 20. Jahrhundert. Seine ältere Schwester ist für lange Zeit sein Halt, am Rande der Gesellschaft steht auch sie, und sie geht über die Grenzen hinaus, nimmt Kontakt zur Außenwelt auf. Die Geschwister führen eine inzestuöse Beziehung, bis die Schwester einen mysteriösen Unbekannten trifft, der ihr 2 Fläschchen gibt: eines mit gelbem Elixier für ewiges Leben ohne Altern, eines mit blauem Elixier, falls man doch sterben möchte. Die Schwester gibt Flapping Eagle auch 2 Fläschchen, doch er will nicht trinken. Als sie Jahre später den Stamm verlässt, ist er ebenfalls gezwungen zu gehen und trinkt das Elixier vor dem Aufbruch.

Das Leben geht weiter, immer weiter. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, als Gigolo einer Milliardärin kommt er schließlich zu einer Yacht, fährt durch die Welt. Ein Ziel gibt es kaum, seine Schwester wiederfinden, das möchte er. Er genießt sein Leben als Abfolge von Affären, trifft Leute und Menschen. Doch langsam reift in ihm der Wunsch, altern zu können, so alt sein zu dürfen, wie er sich fühlt. Das blaue Elixier hatte leider schon die Milliardärin geschluckt. Er fährt dorthin zurück, wo sie lebte – und trifft einen alten Bekannten. Der ist also auch einer wie er. Er beschreibt ihm einen Weg zur Insel Calf, auf der nur Menschen leben sollen wie sie, Unsterbliche. Fast ertrinkt er auf dem Weg durch den Strudel im Mittelmeer, aber er kommt an.

Phase II. Dort trifft er die lebendigste Person des Romans, Virgil Jones. Der ist erstmal fett und träge und lebt scheinbar öde mit einer Alten einsam am Ufer der Insel – aber er ist ein Checker, zwar ausgegrenzt von der Gesellschaft der Insel, aber er strotzt vor Wissen, seine Erklärungen sind inspirierend.

Es ist etwas faul auf dieser Insel. Um nicht dem Wahnsinn zu verfallen, suchen sich seine Bewohner eine Obsession, etwas, das ihre inneren Welten besetzt und so vor dem Effekt verschließt. Der Grimus-Effekt. Der Effekt wird stärker, je höher man geht, aber natürlich will Flapping Eagle dahin, zu der Stadt K, wo die meisten Inselbewohner leben. Auf dem Weg befällt ihn (wie jeden Neuling) ein Fieber, er muss die Reise in seine inneren Dimensionen bestehen und wieder herausfinden, seine inneren Dämonen besiegen – wie Rushdie hier die Bilder im Leserkopf zum Kreisen bringt, lässt einen das Fieber miterleben, ist vielleicht der stärkste Teil des Romans.

Und dann ist er da. Endlich eine Heimat für mich – denkt Flapping Eagle;

Es war Nachmittag, und der Nebel hatte sich vom Gold des Morgens in ein post-meridianes Gelb verfärbt. Gelb für das Leben, erinnerte sich Flapping Eagle […]. Ein träger Dunstschleier lag über dem Raum. Die Zeit vergeht jetzt langsamer, dachte Flapping Eagle und war fast glücklich. In K zu sein, zu einer Bewußtheit der Geschichte zurückzukehren, der guten Zeiten, sogar der Nationalität: O’Toole, Tscherkassov... ob man sie mochte oder nicht, die Namen riefen eine vergangene Welt ins Leben zurück. Hier, im Schutz des Gribbsschen Salons, fühlte er sich wohl und fand Geborgenheit.

Endlich einer, der es zu Ende bringt – denkt Virgil; mein Erlöser – denkt Grimus;

„Wie wollen Sie den Grimus-Mythos widerlegen?“ hatte er Gribbs gefragt. „Pah“, hatte die Antwort gelautet. „Ich habe keine Zeit für Entstehungsmythen. Ich muß Sie dringlichst darauf hinweisen, daß diese Beschäftigung mit simplifizierenden Ursprungserklärungen – und mehr sind diese Entstehungsmythen ja nicht – eine äußerst kontraproduktive Angelegenheit ist.“ „Vielleicht“, erkundigte sich Flapping Eagle so höflich, wie er nur konnte, „können Sie mir ja erklären, wie Sie und Mrs. Gribbs – und was das angeht, sämtliche Bewohner der Stadt – nach Calf Island gekommen sind.“ „Zuweilen, Mr. Eagle“, entgegnete Gribbs, „lassen Sie ein gewisses Maß an Perversität erkennen... Wie ich schon sagte, Ursprünge, Anfänge sind wertlos. Wertlos. Studieren Sie meinetwegen, wie wir hier leben. Aber vergessen Sie um Himmels willen diese Mutterleibsgeschichten, von denen Sie besessen sind, diese Fragen nach der Geburt. Von weit größerem Interesse als die Geburt ist ja doch wohl die Reife! Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich muss vor dem Lunch noch ein paar weitere Clichés kollationieren.“

Eine Bereicherung, und ein Fremdling – denken die Bewohner von K. K scheint vergleichbar mit einer hiesigen Kleinstadt, die Bewohner finden dann auch Wahrheiten, die für Kleinstädter so wahr sind wie für Unsterbliche. Die Erkenntnis kommt natürlich am nackigsten in der Kneipe zum Vorschein:

Im Elbaroom sagte Hunter zu [One-Track] Peckenpaw: „Furchtbar langweilig, diese Stadt. Wenn man irgendwas Neues zu tun versucht, ist man gezwungen, Esel zu vergewaltigen. Dieses ewige Überleben macht uns alle zu Feiglingen.“

„Äh?“ machte Peckenpaw.

„So hätte es eigentlich nicht sein dürfen“, sagte Hunter.

„Äh?“ machte Peckenpaw.

„One-Track“, sagte Hunter, „warum sind Sie auf diese Insel hier gekommen?“

Tiefernst dachte Peckenpaw über die Frage nach. Dann sagte er: „Ich hatte mich daran gewöhnt, ewig zu leben.“


Phase III. Nach seinem Erscheinen häufen sich die Todesfälle, der Fluch der Geburt scheint noch zu wirken. Das Ende? Die Suche nach Erlösung führt auf die Spitze des Berges, die in einen ständigen Nebel gehüllt ist. Wo Grimus wartet, und auch seine Schwester. Das Ende ist schlüssig, aber wie Rushdie Welten, Nebenwelten und das Fliegen in den Zwischenräumen schildert, ist der eigentliche Clou des Romans. Die luftige bis berauschende Sprache trägt durch die prasselnde Ereignisabfolge, auf das Flatterhafte der Handlung muss man sich dabei einlassen können. Schließlich heißt die Hauptperson auch Flatternder Adler.

Grimus ist ein Anagramm von Simurg, mystischer Vogel persischer Mythologie, Phönix. Sufismus. Weltenbaum. Berg der Erkenntnis. Innere Welten. Dantes Göttliche Komödie. Unsterblichkeit. Heimat.

An mancher Stelle steht, das Buch sei Science-Fiction. Unglaubliche Effekte, Wesen, Elixiere und Gerätschaften kommen vor. But no Science. Myst-Fiktion. Schön dazu auch die Textstelle: Der eine Aspekt von K, den ich vor allem liebe, ist die Abwesenheit von Wissenschaftlern. Ich habe es immer schon als Schande empfunden, dass reine Technologen die Anmaßung besitzen, sich so zu nennen – Wissenschaftler, Männer des Wissens. In ihrer Abwesenheit ist die Wissenschaft zu ihren wahren Hütern zurückgekehrt...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Dersu Usala

Gefangen im Bewusstsein des Unlösbaren, zu lösen nur durch Lösen vom Bewusstsein.

Dersu Usala

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