Groß war die Empörung nach einer Mitteilung des parlamentarischen Kontrollgremiums, nach der die deutschen Nachrichtendienste 2010 mehr als 37 Millionen E-Mail- und Datenverbindungen überprüft haben. Am Ende blieben 213 verwertbare Hinweise für die Nachrichtendienste übrig. FDP und Grüne kritisierten Umfang der Stichprobe wie den Umfang der gerasterten Begriffe. Hans-Christian Ströbele sprach gar von „strategischer Überwachung“.
Ist Deutschland ein Schnüffelstaat? Sitzt Big Brother bereits an den Knotenpunkten des Netzes und überwacht uns alle? Sind wir wieder in den neunziger Jahren, als der CDU-Innenminister Manfred Kanther den Bürgern per Gesetz vorschreiben wollte, nur Computer zu benutzen, in denen ein Krypto-Chip die Kommunikation belauscht?
Aufs Fernmeldegeheimnis verzichtet
Ein paar Zahlen zur Einordnung: 2010 wurden in Deutschland zwischen 16 und 44 Milliarden E-Mails transportiert. Die große Spannbreite ergibt sich daraus, dass viele Mails Deutschland nicht eindeutig zugerechnet werden können. Denn große Konzerne haben ihre Mailserver im Ausland stehen, da, wo es möglichst billig ist. Ein Viertel der Deutschen haben ihr privates Mail-Konto zudem bei Anbietern wie Google, Yahoo oder Microsoft. Sind sie bei letztgenannter Firma mit Windows-, Live- oder Hotmail-Konten, stehen die Server in Irland, ebenfalls weitab der deutschen Grenzen. Wer mit diesen Angeboten arbeitet, verzichtet auf den Schutz des Fernmeldegeheimnisses, den das deutsche Recht bietet. Ebenso derjenige, der Mails zu diesen Diensten schickt.
Was also bleibt vom Schnüffelstaat? Nicht viel außer der Erkenntnis, dass die Empörung aus technischer Sicht Pose ist. Der Blogger Hadmut Danisch hat recht, wenn er schreibt: „Wer jetzt hier schreit, dass das Fernmeldegeheimnis verletzt würde, der soll mal erklären, warum er bisher geglaubt habe, bei E-Mail überhaupt eines zu haben.“
Inmitten der schönen neuen Internet-Welt hat sich eine Gedankenlosigkeit bei der Nutzung von Angeboten eingenistet, die weit über die Kritik am bösen Facebook oder an Google Streetview hinausgeht. Der Gesellschaft fehlen Konzepte, wie der Schutz des „Kernbereiches der privaten Lebensführung“ bei der Kommunikation aussehen kann, zu denen E-Mail, aber auch das beliebte Skypen gehört.
Schwerer Rechtsverstoß
Symptomatisch sind die Erkenntnisse des Bundesdatenschutzbeauftragten Peter Schaar, der bei der Analyse des „Bundestrojaners“ feststellen musste, dass die Schnüffel-Software beim Mitschnitt von Skype-Telefonaten keine Möglichkeit kennt, intime Gespräche auszublenden. Weder die Programmierer noch die Auftraggeber der Software bei Polizei und Zoll sind auf den Gedanken gekommen, dass hier ein schwerer Rechtsverstoß vorliegen könnte. Ganz nebenbei bemerkte Schaar weitere Rechtsprobleme, etwa, wenn ein Laptop samt Software ins Ausland genommen, die Überwachung aber fortgesetzt wird.
Das Konzept der Privatsphäre wurde in den USA als Privacy kodifiziert. Der Jurist Louis Brandeis definierte es vor mehr als hundert Jahren als „Recht, allein gelassen zu werden“, um beispielsweise einen Brief schreiben zu können. In dem gerade erschienen Buch von Tim Weiner über das FBI ist nachzulesen, was die Polizei von Brandeis und seiner Idee hielt: gar nichts. Der junge Polizeiermittler J. Edgar Hoover definierte, dass Kommunisten keine Privatsphäre haben, weil sie den Staat stürzen wollen, und führte eine flächendeckende Briefüberwachung ein. Er zapfte mit neuester Technik Telefone an. Es wurden Abhörräume direkt bei den Telefongesellschaften installiert, vergleichbar mit der heutigen Mitschnittmöglichkeit am Internet-Knotenpunkt. Brandeis schrieb an Hoover eine Warnung vor flächendeckender Überwachung: „Die Telefonleitung eines Einzelnen anzuzapfen bedeutet, das Telefon all derjenigen anzuzapfen, die diese Person anruft und von denen diese Person angerufen wird.“ Hoover ignorierte Brandeis mehr als 40 Jahre lang. Unbescholtene Bürger haben nichts zu verbergen, war seine Antwort. Von Zeit zu Zeit ließ er neu definieren, was ein „Kommunist“ ist. Auch die Bürgerrechtsbewegung um Martin Luther King wurde so systematisch abgehorcht.
Dem Computer vertrauen
Gegen die Definition von Brandeis stehen die Verfechter der Post-Privacy, die Privatsphäre unter den Bedingungen des Internets definieren. „Was es uns an Freiheit bringt, nicht beobachtet zu werden, das wird in mancher Weise unterschätzt“, schreibt der Post-Privacy-Papst Christian Heller. Er zählt lieber die Vorteile auf, die die offene Einsicht in seine Daten bringt.
Wer dennoch vertraulich kommunizieren möchte, müsse dem Computer vertrauen und seiner Rechenkraft. Verschlüsselungssysteme treten an die Stelle von Rechtssystemen. Auch die Bundesregierung folgt ähnlichen Gedankengängen, mit einem kleinen Unterschied: Kommende Woche wird auf der Computermesse CeBIT die De-Mail eingeführt, ein Versandsystem verschlüsselter Nachrichten unter authentisch verbürgten Nutzern. Soweit, so gut? Leider nicht ganz. Denn für einen winzigen Sekundenbruchteil soll alle De-Mail-Post im Rechenzentrum entschlüsselt und auf Viren- oder Spambefall hin überprüft werden. Wir sollten das die Kanther-Ehrensekunde nennen.
Detlef Borchers schreibt über die gesellschaftlichen Folgen von Informationstechnik
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