„Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Was darf ich hoffen?“ – mit den drei berühmten Kantschen Fragen konfrontiert Sabine Peters drei etwa 30jährige Frauen in einer Zeit, in der Hoffnungslosigkeit und Fatalismus zunehmen. Sie stellt ihnen diese drei Fragen angesichts patriarchalischer gesellschaftlicher Verhältnisse, angesichts einer Elterngeneration, die nach wie vor aus der Zeit des Faschismus kommt und angesichts globaler Bedrohungen: „wie werden menschen verbogen gedreht und haben zur sprache zu finden zu ihren bildern und wörtern.“ „Der Stachel am Kopf“ – so der Titel der streng durchkomponierten Momentaufnahmen aus dem Leben der drei Frauen – steht als Symbol für Bedrohung, für bohrende, quälende Fragen, aber auch für Möglichkeit der Gegenwehr. Die drei Frauen leben in Hamburg, sie stehen auf der Seite der Schwachen, der Opfer dieser Gesellschaft. Diesen Blickwinkel – verbunden mit einer überall greifbaren Zuneigung zu ihren Figuren – nimmt auch die Autorin ein. Bei allen Differenzierungen und durch starke Typisierungen herausgearbeiteten Gegensätzen und verschiedenen Erzählperspektiven, liegt in diesemmtiefgreifenden Humanismus die Konstante des Textes.
Christa arbeitet als Altenpflegerin und erlebt in ihrem Beruf ohnmächtig die Unmenschlichkeit, mit der alte Leute abgeschoben und abgefertigt werden. Genauso ohnmächtig steht sie ihrem Freund Stefan gegenüber. Sie liebt ihn bedingungslos, aber er widmet sein Leben ausschließlich seiner Karriere, er benutzt sie lediglich. Ohnmacht empfindet Christa schließlich auch gegenüber der globalen Bedrohung durch Krieg, Umweltzerstörung und der Aussichtslosigkeit, mehr Menschlichkeit in die Welt zu bringen. Für sie gibt es kein Wissen, kein Tun und keine Hoffnung. Sie geht unter. Christas Gegenstück, die Politologie-Studentin Bettina, ist an der Universität und an den Putz-Stellen, an denen sie ihr Geld für das Studium verdient, mit dem Zynismus der mittlerweile etablierten Alt-Achtundsechzigerin konfrontiert. Sie hat ihre „lehren gezogen aus dem, was gelehrte lehren“.
Sie will die Welt verändern. Sie beteiligt sich an Antifaschismusarbeit, am Kampf gegen die Ausplünderung der Dritten Welt, an den politischen Aktionen zur Unterstützung der „Hafenstraße“ und der RAF-Häftlinge gegen den übermächtigen Staat. „du dachtest über das Wort zuständigkeit nach. wer, wenn nicht du, wann, wenn nicht jetzt?“ Im einleitenden Abschnitt des Buches, der die „ganz normale Kindheit“ der Frauen beleuchtet, steht die Schriftstellerin Marie als dritte noch gleichberechtigt neben Christa und Bettina. In dem Maß, in dem sie alle ihr Profil gewinnen, tritt Marie den beiden anderen gegenüber. Ihr wird die Rolle der Beobachterin zugeschrieben, in deren Haltung sich die Erfahrungen der anderen beiden noch einmal brechen. Marie begreift ihr Schreiben als einen Akt des Widerstands, sie verleiht der Situation den sprachlichen Ausdruck, sie spitzt auf diese Weise die Stacheln: „buchstabe wort satz ton schrei“.
Die Antworten auf die Kantschen Fragen werden im Widerstreit gegeben: „es gibt arbeit können wir wissen es gibt sie gegen das weiße gold mittags es gibt sie für leben von allem.“ Und weiter: „bevor wir sagen können das sollen wir tun auf die frage was sollen wir tun muss gewusst werden was wir hoffen dürfen (...) denn das zur: muss unsere hoffnung enthalten sonst wird es kein tun sondern nur eine tat eine tat aus Verzweiflung, verzweifelte untaten haben wir schon.“ Aber was dürfen wir hoffen? Dürfen wir uns den Luxus der Frage überhaupt noch leisten? „sie konnten ihn sich nicht leisten im ghetto in warschau ob sie sich wehrten oder ob sie sich nicht wehrten.“
Sabine Peters gelingt es in ihrem Text, drängenden politischen Fragen der Gegenwart künstlerischen Ausdruck zu verleihen, sie fordert ihre Leser. Gezielt setzt sie sehr verschiedene literarische Formen ein: Beschreibungen, Brief, innerer Monolog, Ansprache der Personen und nicht zuletzt – in den abstrakt-verallgemeinernden Sequenzen – Lyrik. Ihre Prosa, die in jedem einzelnen Teil, aber auch in seiner komplexen Gesamtstruktur erarbeitet werden will, trägt insgesamt lyrische Züge. Die Autorin bedient sich konsequenter Kleinschreibung und verzichtet fast gänzlich auf Satzzeichen. Sie strukturiert ihren Text durch die Komposition der einzelnen Abschnitte, durch Einführung und Wiederaufnahme einzelner Motive, durch den Rhythmus der Sprache. Sie schafft eine innere Dynamik von Widerstreit und Entwicklung, die vorwärts drängt und Formuliertes immer wieder in Frage stellt: „scheinlos die vollendung unfertig vollendet offen in aller bewegung.“ Sabine Peters erzeugt eine produktive Unruhe, das Buch wird zum Stachel am Kopf der Leser.
Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag
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