Ich wär' dann so weit

Arbeitskampf Die Gewerkschaften haben wieder Vertrauen ­gewonnen. Sie müssen jetzt ihre Lähmung überwinden. Die Zeit ist reif, den Konflikt auch in die Betriebe zu tragen

In der Krise liegen Chancen, tröstet uns der Bundespräsident. Der Neoliberalismus ist delegitimiert, frohlockt die Gewerkschaftszeitung. Studenten lesen wieder Marx, der Sozialismus wird hoffähig, sorgt sich Die Zeit. Steht also eine politische Wende bevor? Zweifel sind angebracht. Die Bundesregierung tut jedenfalls alles, überfällige Reformen zu verhindern. Und die Gesellschaft übt sich in Geduld.

Wer dem desaströsen Wirken der Finanzmärkte Einhalt gebieten will, muss die Realwirtschaft zum Thema machen. Wenn das Spielcasino außer Kontrolle gerät, liegt dies an der Inflation der Einsätze, also am Überschuss des Kapitals. Dieser folgt aus jahrelanger Umverteilung, zum Beispiel von Arbeitseinkommen zu Kapitaleinkommen, von öffentlicher Wohlfahrt zu privatem Profit, von inländischer Nachfrage zur Exportwirtschaft. Kein Wunder, dass Gewinne und Vermögen zu immer größeren Teilen der strangulierten Realwirtschaft den Rücken kehren, ihre Rendite in Finanzanlagen suchen und hier die Spekulation anheizen. Dies alles ist politisch gesetzt und gefördert – und soll nach dem parlamentarischen Mehrheitswillen auch so bleiben.

Die Bundesregierung setzt vornehmlich auf neue Regeln fürs Roulette; an den Ungleichgewichten der Realwirtschaft und dem hier erzeugten Kapitalüberfluss soll sich dagegen nichts ändern. Eine Umverteilungsreform ist nicht gewollt, weder zugunsten der Arbeits- und Sozialeinkommen noch zugunsten des ökologischen Umbaus und des nachhaltigen Ausbaus öffentlicher Güter und Leistungen. Im Gegenteil, die von der Bundesregierung jüngst auf den Weg gebrachte Schuldenbremse wird den Bewegungsspielraum der öffentlichen Hand noch mehr einschnüren. Auch die jüngsten Steuerpläne der SPD ändern an den Ungleichgewichten nichts; sie verzichten auf dauerhafte Umverteilung und tragen ohnehin den Wahlabend als eingeschriebenes Verfallsdatum; wären sie ernst gemeint, müsste die SPD heute schon auf ein linkes Bündnis orientieren.

Leichtfertige Konsenssignale

Von selbst wird die Krise, und mag sie noch so verheerende Folgen haben, die Versteinerungen neoliberaler Klientelpolitik nicht aufbrechen. Selbst das Drängen der US-Regierung, der Depression in Europa ebenbürtig und koordiniert gegenzusteuern, ist an der Bundesregierung abgeprallt. Wer folglich mit den Gewerkschaften auf Reformen setzt, muss Druck entfalten. Noch so überzeugende Vorschläge, wie die jüngst von IG Metall und Verdi vorgelegten Konzepte, werden keine Umkehr bewirken; es geht um Interessen und Macht, nicht etwa um Einsicht. Wenn Unternehmer derzeit um gewerkschaftliche Unterstützung nachsuchen, wenn die SPD die Hände ausstreckt und wenn die Kanzlerin zum Gespräch einlädt, sollte das nicht zu der Illusion verleiten, dass die Umworbenen damit Einfluss gewonnen hätten.

Soweit mitunter der Eindruck vaterländischer Einigkeit entstanden ist, sind die Gewerkschaften daran nicht unschuldig. Zu verhalten ist ihre Kritik. Zu leichtfertig wurde bisweilen Konsens signalisiert, obwohl in Grundsatzfragen die Gegensätze aufeinanderprallen. Recht spät erst haben die Gewerkschaften sich mit eigenen Gegenpositionen ins Gespräch gebracht. Erst im Mai ist eine Demonstration geplant. Die Kundgebungen am 28. März in Frankfurt und Berlin haben die Gewerkschaften zwar wohlwollend beobachtet und beehrt, doch nicht etwa zielgerichtet zur Einstimmung und zur Vorbereitung künftiger Aktionen genutzt. Dass auch andere oppositionelle Kräfte innerhalb und außerhalb des Parlaments nur mit Mühe und Verzögerung Tritt fassen, macht die Sache nicht besser.

Gewiss, dass Ruhe herrscht, hat viele Gründe. Bis gestern war die Krise in den Kernbelegschaften noch nicht angekommen; viele fühlten sich noch nicht betroffen. Nunmehr machen sich Entlassungssorgen breit. Angst lähmt und ermuntert nicht aus sich heraus zum Widerstand. Es liegt folglich an den Gewerkschaften, die Lähmung zu überwinden: durch überzeugende Forderungen sowie durch Bündnisse und Aktionen, die das Vertrauen in die gewerkschaftliche Durchsetzungsmacht und -bereitschaft stärken.

Gewerkschaftliche Forderungen liegen mittlerweile vor. Sie enthalten wirksame Alternativen und verdienen Unterstützung. Doch so wichtig und notwendig zum Beispiel staatliche Beteiligungen an unterstützten Unternehmen, der Ausbau der Mitbestimmung, Arbeitszeitverkürzungen oder eine Reform des Insolvenzrechts auch sind, sie liefern nicht den Stoff für kurzfristige Massenmobilisierung. Die hat vielmehr an den existenziellen Nöten der Menschen anzusetzen, etwa in Gestalt eines sozialen Sofortprogramms. Sicher werden Gewerkschaften und Betriebsräte um jeden Betrieb und jeden Arbeitsplatz ringen; doch sie werden nur vereinzelt Erfolg haben. Für allzu viele drohen Entlassungen, spätestens nach der Bundestagswahl.


Was also liegt näher, als für eine verlängerte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes aufzustehen? Etwa auf zwei Jahre, für ältere Menschen nach dänischem Vorbild auf drei Jahre. Es ist ohnehin ein Stück aus dem Tollhaus, am Vorabend der Krise mit unabsehbaren Folgen für die Beschäftigung bei der Bundesagentur für Arbeit Milliardenüberschüsse auflaufen zu lassen und die Beiträge zu senken! Als gleichrangiges Element eines sozialen Sofortprogramms sind die Regelsätze zu Hartz IV aufzustocken und ihr Bezug von menschenunwürdiger Repression freizustellen, wie namentlich dem Zwang zum Wohnungswechsel und zu beruflichem und sozialem Abstieg. Auch sollten in Unternehmen, die Gewinne machen oder Dividenden ausschütten, betriebsbedingte Kündigungen ausgeschlossen werden. Entlassene sollten einen Wiedereinstellungsanspruch haben, wenn es wieder bergauf geht. Dass die Agenda-Wärter der SPD jede Korrektur der Hartz-Gesetze als Teufelszeug bekämpfen, sollte die Gewerkschaften nicht hindern, für Nahziele der vorstehenden Art lautstark einzutreten.

Bei alledem sind die Ausgangsbedingungen nicht ungünstig. Die Entrüstung über die Schamlosigkeit der Wirtschaftselite ist verbreitet. Doch begegnet sie überwiegend als mehr oder weniger diffuse Stimmung, die auch für reaktionäre, ja rechtsextreme Lösungen instrumentalisiert werden kann. Umso notwendiger ist die Erfahrung eigener Gegenmacht, um der Empörung Richtung zu geben und politisches Bewusstsein zu bilden. Dies gelingt nur in gemeinsamer Aktion. Die Großkundgebung am 16. Mai kann nur ein Anfang sein.

Überdies ist die Zeit reif, den Konflikt in die Betriebe zu tragen, auch in Gestalt von Arbeitsniederlegungen. Es sind Unternehmer, Aktionäre und Banker, die zur Umverteilung und zum Abbau rechtlicher und sozialer Bindungen angetrieben, die davon profitiert und die die Früchte gemeinsamer Arbeit nunmehr verzockt haben. Wer, wenn nicht sie müssen primäre Adressaten sozialen und politischen Drucks sein, wenn sich in diesem Lande etwas ändern soll? Krisenursachen und -folgen sind Bestandteil des sozialen Konflikts, auch und gerade wenn die Politik parteiergreifend interveniert.

Die Gewerkschaften haben in jüngster Zeit Vertrauen gewonnen. Sie sollten es bestätigen!

Verschafft die Krise dem DGB neuen Zulauf?

Die acht Gewerkschaften unter dem Dach des DGB haben in den vergangenen Jahren einen stetigen Mitgliederschwund registrieren müssen. Waren 1991 noch mehr als 11,8 Millionen Menschen organisiert, zählte man im vergangenen Jahr nur noch knapp 6,4 Millionen Mitglieder.

Im Mai 2008 sorgte eine Studie für Schlagzeilen, die bei einem Viertel der organisierten Kollegen deutliche Unzufriedenheit mit den Gewerkschaften feststellte. Zugleich jedoch machte die Expertise auch das noch unausgeschöpfte Potenzial des DGB deutlich: 19 Prozent der Nichtmitglieder erklärten, den Gewerkschaften nahe zu stehen.

In den vergangenen Monaten hat sich die allgemeine Wertschätzung des DGB ohnehin positiv entwickelt, sagt Heiner Dribbusch vom gewerkschaftsnahen WSI-Institut in Düsseldorf. Das liegt zum einen an den teilweise erfolgreichen Tarifkämpfen der jüngsten Aufschwungsperiode. Andererseits ist das unter marktradikalen Vorzeichen gemeinhin propagierte Bild von den Reformbremsern inzwischen gewichen: Wurden jahrelang Mitbestimmung und Sozialpartnerschaft infrage gestellt, so Dribbusch, werde vielen Menschen in der Krise die Rolle der Gewerkschaften wieder stärker bewusst.

Wie sich das auf die künftige Mitgliederentwicklung auswirkt, ist kaum vorauszusehen. Die bisherige Erfahrung zeige, so Dribbusch, dass die Organisationen vor allem dort mit Zuwachs rechnen könnten, wo sie offensiv im Betrieb auftreten und erfolgreich auf die Sorgen der Menschen reagieren würden. Wo die befürchteten Massenentlassungen allerdings nicht verhindert werden könnten, werde es wohl auch weitere Austritte geben.

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