Finanzminister Hans Eichel, stets gerade wie ein Lineal, höchstens mit geschwollener Brust nach den UMTS-Milliarden, sank vor dem Rednerpult des Bundestages heulend zusammen. Was war geschehen? Gerade erst hatte Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU) den Sozialdemokraten pauschal vorgeworfen, die deutsche Einheit vor zehn Jahren nicht gewollt zu haben, da übermannten Eichel die Tränen, als er von seinem familiären Weihnachtsbesuch in Heiligenstadt berichtete, wo seine Großeltern herstammten. Warum weinte der Minister? Vor Wut über die CDU-Verdächtigungen oder vor Erinnerungsseligkeit an das deutsch-deutsche Abenteuer ohne Begrüßungsgeld? Die Öffentlichkeit war beeindruckt. Ein weinender Finanzminister!
Von ähnlich überraschendem Kaliber war der kürzliche Tränenstrom des Pistenhelden Michael Schumacher. Auch er hatte ja, ähnlich wie Eichel, eigentlich gewonnen. Aber dann übermannten ihn vor den Kameras die Gefühle, er versenkte den Kopf in den Armen und heulte sich hemmungslos aus.
An die feuchten Augen des Helmut Kohl, gerade erst wieder bei einer Ordensverleihung für den Kanzler der Einheit in Budapest registriert, hatten wir uns schon gewöhnt. Obwohl Thomas Schäuble, baden-württembergischer Innenminister, feststellte:"Wir wissen, dass Kohl bei jeder Gelegenheit auf Abruf weinen kann." Manch einer wollte auch bei der stellvertretenden PDS-Vorsitzenden Sylvia-Yvonne Kaufmann zu solch einer Einschätzung gelangen, als sie auf dem Münsteraner Parteitag zu weinen begann, nachdem auf ihre Initiative Gysi und Bisky eine schwere Abstimmungsniederlage wegen des Streites um UN-Friedenseinsätze erlitten hatten. Taktische Gefühle? Alles Glyzerin? Wohl doch nicht. Viele Prominente zeigen neuerdings die gesamte Gefühlsskala. Politiker haben einen Tränenbonus, der durch die gezeigten Schwächen ihre öffentliche Glaubwürdigkeit steigert. Als aber Renate Wallert im philippinischen Dschungel aus verständlichen Gründen die Nerven verlor, wurde sie in deutschen Boulevardblättern als Heulsuse beschimpft. Merkwürdige Differenz. Aber vielleicht sind Politikertränen einfach leichter zu ertragen. Die Gebildeteren unter ihnen haben womöglich den Vers aus den Episteln des Horaz parat: "Est quaedam flere voluptas"(Im Weinen liegt eine gewisse Wonne). In der neuen Weinerlichkeit herrscht ein Tabubruch, der noch so neu ist, dass er Wirkung erzielt. Peinlich dürfte die Sache erst dann werden, wenn sie zur täglichen Routine wird. Wenn ein weinender Schröder einer schluchzenden Merkel widerspricht oder ein aufgelöster Möllemann einer schniefenden Künast. Eine derartige Entwicklung ist nicht auszschließen, weil unsere Gesellschaft zur gnadenlosen Ausbeutung jeder Emotion neigt. Denn werden wir, erschöpft von so viel öffentlichem Exhibitionismus, vermutlich nicht mehr mit Pindar sagen: Ariston to men hydor (Das Beste ist doch das Wasser). Und wir werden uns sachliche Parlamentarier, Sportler und Künstler wünschen, die ihre Alltagsgefühle im Griff haben. Weil es sonst sehr, sehr peinlich wird. Wie zum Beispiel, als der Präsident des Deutschen Leichtathletikverbandes Helmut Digel erfuhr, dass sein Lieblingssaubermann, der Langstreckenläufer Dieter Baumann, gedopt sei. Da brach Digel öffentlich in Tränen aus, was als unzulässige Parteinahme eines Funktionärs gewertet werden muss, weil er in vergleichbar unübersichtlichen Fällen das Dopingsperrenschicksal seiner ostdeutschen Schutzbefohlenen Uta Pippig und Susen Tiedtke keineswegs beweinte. "Aus den Leidenschaften wachsen die Meinungen". (Friedrich Nietzsche)
Im besten Falle aber wird der reichliche Tränenstrom im Zeitalter der Ökosteuer zu einer Energiequelle der besonderen Art. Er verleiht dem Betrachter mitfühlende Emotionen, die im unter günstigen Umständen Herz und Füße wärmen, so dass er an der Ölheizung sparen kann. Die Ökonomie der Gefühle wird revolutioniert, endlich dürfen wir wie die Kinder, alle Gefühle herauslassen, wir, die Generation, die wider Erwarten nahe am Wasser gebaut hat.
Wohl deshalb haben die Christdemokraten ihre Feier zum Tag der Deutschen Einheit klugerweise in den Berliner Tränenpalast gelegt. Dort am einstigen Grenzübergang Friedrichstraße kann Helmut Kohl, so er denn kommt, die Augendeckel klappern lassen, bis das Kammerwasser der Rührung reichlich fließt.
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