Im Winter 1962/63 trat in Hamburg die Elbe über die Ufer. Es gab hunderte Überschwemmungsopfer. Des einen Flut ist des anderen Gut, dachten vielleicht einige FDJ-Funktionäre der Berliner Humboldt-Universität und bugsierten uns Studenten der philologischen Institute zu einer Vollversammmlung. Um mit Hamburgs Politikern, zuvörderst Innensenator Schmidt, später Schmidt-Schnauze genannt, abzurechnen, den sie für alle Tragik der Katastrophe verantwortlich machen wollten. Die Flut, eine besonders perfide Machenschaft des Klassenfeindes und Schmidts jämmerliches Versagen vor den Naturgewalten. Es war ein gespenstisches Unternehmen, dem wir jungen Leute ziemlich fassungslos ausgeliefert waren. Bis unser Professor Schottlaen der, wie immer schnellen Trippelsc
lschrittes und vorgeneigten Kopfes, das Podium erklomm. Scheinbar hilfsbereit unterbrach er den FDJ-Funktionär Volker Eichstädt und zog ein Schreiben aus der braunen Aktentasche: »Hier habe ich einen Brief meines Oldenburger Freundes Meiners, in dem er mitteilt, was alles in Hamburg unternommen wird, um der Gefahren Herr zu werden.« Und las vor. Wir lachten höhnisch. Wieder einmal hatte Rudolf Schottlaenders pragmatische, niemals in Lagern wohnende Denkweise den Sieg davongetragen. Mutig hatte er sich in die Phrasenflut geworfen und einen scheinbar leichten Sieg davongetragen. Damals konnte ich als 19jähriger noch nicht ahnen, mit wievielen Niederlagen und Schmerzen diese Haltung erworben war. Schottlaenders wahrhaft stoische Gemütsverfassung war beispielhaft. Sie hat uns durch unser Studium geführt. Kurz vor der erwähnten Versammlung hatten wir im Januar 1962 unseren ersten Auftritt als Philomimen, als glühend engagierte Laienschauspieler des Instituts für Altertumskunde. Die Gründung der Bühne war das Copyright unseres geliebten Lehrer, dem es vielleicht etwas langweilig geworden war im Staub des Instituts, an das er 1959 aus Westberlin gekommen war. Er verstand es, uns für das Projekt zu begeistern. Und so spielten wir als erstes den Dyskolos (Das Rauhbein) von Menander, in der prägnanten Übersetzung unseres Professors und seiner furiosen Regie. Die unter anderem darin bestand, alle verfügbaren Rollen erst einmal selbst zu übernehmen. Er war ein spielfreudiger Regisseur. Und seine Spielfreude übertrug sich auf uns, obwohl oder weil wir über ihn lachen musten.Später hat er mir einmal gestanden, dass sein Lieblingsschauspieler Max Pallenberg gewesen sei. Er spielte mir vor, wie Pallenberg lüstern eine Speise beäugt. Schottlaenders Bühne dafür war ein Mitropa-Speisewagen, in dem wir zu einem Gastspiel rollten. Die Philomimen zogen durch die Universitätsstädte der DDR, von Rostock bis Leipzig, sie spielten Stücke von Menander, Plautus und Aristophanes, alles lustige, deftige Sachen. Nur einmal wagten wir uns an eine Tragödie, die Elektra des Sophokles. In vielen Stücken wirkte Schottlaender selbst mit, zog sich die antiken Gewänder an und war zumeist ein lebendiger Alter von höchster Eindringlichkeit und Präsenz, von einem Realismus, der ans Surreale grenzte. Auch dabei habe ich erst viel später verstanden, woher diese Spielfreude kam. Aus einem unterdrückten Redebedürfnis, das ihm als jüdischem Zwangsarbeiter in Berlin sogar das Sprechen mit den »arischen« Arbeitern verbot. Rudolf Schottlaender ging äußerlich gelassen mit diesen Narben um. Vielleicht halfen ihm sein Berliner Witz und seine Lakonie. Antike war für ihn Gegenwärtigkeit, römisches Rechtsdenken eine einklagbare Forderung beispielsweise in der juristischen Willkürzone DDR. Aber er lag in niemandes Schublade, seine Systemkritik arbeitete in beide Richtungen. Schottlaender, der in den fünfziger Jahren Mitglied der Gesamtdeutschen Volkspartei Gustav Heinemanns war, die Blockfreiheit und Wiedervereinigung auf ihre Fahnen geschrieben hatte, öffnete mir die Augen für die Brechtsche dritte Sache, für ein Denken gegen jeweils herrschende Klischees. Im Westen kämpfte er gegen die Atombombe, im Osten durfte sein Buch über die jüdische Wissenschaft an der Berliner Humboldt-Universität nicht erscheinen. Er hat mir geholfen, auch in der DDR meinen eigenen Weg zu gehen. Er war ein verlässlicher wie kritischer Lehrer. Sprache wurde bei ihm zur Hauptsache. Er hasste Undeutlichkeiten. Mozart war nicht zufällig sein Lieblingskomponist. Studenten wie akademisches Personal polarisierte er rasch in Freunde und Feinde. Beide Seiten konnten sich auf ihn verlassen.Wie merkwürdig kam mir einst seine Übersetzung des lateinischen Wortes auctoritas vor, das für ihn keine Vokabel, sondern ein Begriff war: »Unwiderstehliches Bewirken freiwilligen Folgeleistens.« So eine Autorität ist Rudolf Schottlaender selbst gewesen. Bis auf den heutigen Tag.