Ein Gespenst geht um in Deutschland. Sein Name: Das gute alte Westberlin. Knapp 17 Jahre nach dem Fall der Mauer ist es wiederauferstanden und spukt in den Köpfen derjenigen herum, denen die ganze Richtung nicht passt. Ihre Zahl reicht von der ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten Antje Vollmer, über den Westberliner CDU-Kulturwart Uwe Lehmann-Brauns bis zum normalen Frontstädter zwischen Spandau und Rudow, der nach der Liebermann-Parole lebt, "zur Chagall-Ausstellung geh ick nich, am Ende jefällt mir det Zeug noch" und die er für sich umgewandelt hat: Nach drüben jeh ick nich, am Ende jefällt det mir da noch.
Da kann der Berliner Chef der Linkspartei, Stefan Liebich, noch so oft konstatieren, Westberlin sei tot, Gespenster halten sich nicht an solche Sprüche.
In einem herzzereißenden Lamento hat Antje Vollmer kürzlich in der Wochenzeitung Die Zeit, wo man unlängst die letzten Ostredakteure bis auf Restbestände entsorgt hat, die bemitleidenswerten Zustände an Kudamm und Tauentzien aufgelistet. Russische Freudenmädchen führen die Rolltreppen des KaDeWe rauf und runter, um den einkaufslüsternen Mannsbildern die Knete abzuluchsen (das KaDeWe ließ die Sache unkommentiert), das Café Kranzler sei weg, ebenso Schillertheater, Freie Volksbühne, etliche Citykinos, und auch die beiden Lustspieltheater am Kudamm seien von der Schließung bedroht. Die Aufzählung lässt glauben, Udo Lindenbergs Schlager In 15 Minuten sind die Russen auf´m Kurfürstendamm sei schreckliche Realität geworden. Dabei steht nur die Deutsche Bank vor der Tür, die das Kudammkaree, wo auch die Theater siedeln, modernisieren will, um mehr abzukassieren.
Die kapitalistischen Verhältnisse, sie sind halt so. Aber Vollmer, der man etwas mehr Kenntnisse über Politik und Wirtschaft zugetraut hätte, muss natürlich dem Lieblingsfeind, Kultursenator Thomas Flierl von der Linkspartei, noch eine mitgeben. Er sorge dafür, dass in Westberlin kulturell alles den Bach runtergehe und gebe gleichzeitig Geld aus Senatstöpfen aus, um die Ruine des Palastes der Republik als originelles Provisorium zu erhalten. Hat er leider nicht, denn die Mittel für die erfreuliche Initiative junger Leute, die die elenden und lähmenden Ost-West-Klischees endlich stecken ließen, kamen aus der Jury des Hauptstadtkulturfonds, dessen Kuratorin Vollmers grüne Freundin Adrienne Goehler ist.
Der ganze Streit wirkt irgendwie ältlich. Schnee von gestern über der Eisscholle des Kalten Krieges, die nicht auftauen will. Selbst die Westberliner Inselpostille Tagesspiegel, die noch täglich als Service für ihre Leser die Stadt erbsenzählend in Ostteil und Westteil selektiert und die gerade erst in einem Leitartikel wehmütig wurde, weil die Nofretete von Charlottenburg auf die Museumsinsel zog, um dann festzustellen, dass sie dort schon vorher war, selbst diese Zeitung stellte tapfer die Frage, ob wirklich jemand das ganze West-Berlin zurück wolle. Erinnerung versüßt. Weshalb der Autor der richtigen Meinung ist, die Stadthälfte werde geistig-moralisch immer größer, je länger sie abgeschafft sei. Das kennen die Ostler schon: Es war doch nicht alles schlecht.
In der Stadt herrscht noch immer Klaustrophilie. Für eine Metropole, die weltoffen sein will, ein deprimierender Zustand. Eine jüngst veröffentlichte Umfrage ergab, dass seit dem Mauerfall 70 Prozent der Anwohner der Wollankstraße (West), einer belebten Magistrale im Norden Berlins, noch nie unter der S-Bahnbrücke hindurch auf die östliche Seite der Straße gegangen sind. Die besondere politische Einheit Westberlin, wie sie einst von Chruschtschow und Ulbricht gefordert wurde, funktioniert anscheinend freiwillig. Vielleicht liegt in diesen Verhaltensmustern aus dem Kalten Krieg auch die große Angst vor der Schließung des Bahnhofs Zoo für ICEs. Jahrzehntelange Symbole (Zoo - das Tor zur Freiheit) verschwinden und lösen völlig irrationale Ängste aus. Der neue Hauptbahnhof, dieses milliardenschwere Projekt, das seit Jahren bekannt ist, liegt nur drei S-Bahn-Stationen östlich vom Zoo. Die Monatszeitschrift Signal teilte den Lesern beruhigend mit, das sei noch britischer Sektor. Für eine Pastorin, die Unterschriften gegen den Hauptbahnhof sammelt, liegt die Station "in der Walachei". Man könnte auch deutsches Regierungsviertel sagen. Glücklich die Stadt, die solche Probleme hat. Denken wir und hören gleichzeitig vom anderen Ufer einen leise anschwellenden, leicht bockigen Gesang: "Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Halbstadt wieder ´n schönet Eiland wird. Ach wär´ dis schön". Klappt wahrscheinlich nicht.
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