Gottes Hand?

KOMMENTAR Erklärungsnöte in Kaprun

Er ist nicht weit/ der Weg zur Ewigkeit/ um zehn Uhr ging er fort/ um elf Uhr war er dort. Soll man angesichts des schrecklichen Seilbahnunglücks von Kaprun an Erich Kästner denken, der diesen Satz einst auf einer bayerischen Grabtafel fand, die an das Opfer eines Autounfalls erinnerte? Kann dieser schlichte Satz in seinem lapidaren Duktus scheinbar Unfassbares besser benennen? Die Mediengesellschaft schien am vergangenen Wochenende für einen kurzen Moment sprachlos zu sein, als die ersten Nachrichten vom verheerenden Brand auf der Kitzsteinbahn bekannt wurden. Kein Wunder, denn die Wortmaschinerie funktioniert vor allem bei selbsterzeugten »Highlights« auf Knopfdruck, seien es Kokainspuren im Berliner Reichstag, ein koksender Fußballtrainer oder Dieter Bohlens Liebesabenteuer im Teppichgeschäft. Auf echte Katastrophen ist der Medienarbeiter aus verständlichen Gründen mental weniger vorbereitet, ihm fehlen im günstigen Fall die Worte. In Zeiten, in denen es auf buchstäblich alles irgendeine schnelle Erklärung gibt, verbreitet sich bei Katastrophen wie der im Tunnel eine gewisse Ratlosigkeit. Wen überzeugt es schon, wenn Experten uns mitteilen: »Die Bahn war auf dem neuesten Stand der Technik«. Den Angehörigen der Opfer versuchte die katholische Kirche Trost zu spenden. Aber was kann sie schon in einem solchen Moment sagen, wo viele Kinder und Jugendliche unter den rund 150 Toten sind? Wir alle sind in Gottes Hand? Offenbar besaß der Pfarrer von Kaprun genug Charakter, um es bei Tröstungen ohne göttliche Sinnsuche zu belassen. »Das einzige, was ich machen kann: Ich kann die Leute bloß spüren lassen, ich bin da, ich halte zu euch. Worte sind oft so leer«, meinte Peter Hofer. Weshalb die Betroffenen im Schutzraum des Gotteshauses einfach ihren Gefühlen freien Lauf lassen konnten. Das ist viel in der Spaß- und Trallala-Gesellschaft, die Trauer nicht ertragen kann.

Inzwischen jedoch hat pragmatische Katastrophenverarbeitung begonnen. Sämtliche Seilbahnen in den Alpenländern werden gründlich untersucht. Schließlich steht das Wintergeschäft vor der Tür. Die finanziellen Ausfälle waren schon nach diversen Lawinenunglücken im letzten Jahr außerordentlich hoch für die Tourismusindustrie. Auch einige der Überlebenden scheinen ihren Schock fürs erste überwunden zu haben: Im hauptstädtischen Boulevardblatt Berliner Kurier berichtet in reißerischer Aufmachung eine junge Frau aus Kleinmachnow, wie sie dem Unglück entkommen ist. Ab wann mag die Davongekommene darüber nachgedacht haben, dass ihr Überlebensglück bald Bares bedeuten würde? Er ist nicht weit/ der Weg zur Übelkeit... Inzwischen wird die Asche der Opfer genetisch entschlüsselt, um die Verkohlten zu identifizieren. Ein buchstäblich katastrophaler Fortschritt auf dem neuesten Stand der Technik.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Die Vielfalt feiern – den Freitag schenken. Bewegte Zeiten fordern weise Geschenke. Mit dem Freitag schenken Sie Ihren Liebsten kluge Stimmen, neue Perspektiven und offene Debatten. Und sparen dabei 30%.

Print

Für 6 oder 12 Monate
inkl. hochwertiger Weihnachtsprämie

Jetzt sichern

Digital

Mit Gutscheinen für
1, 6 oder 12 Monate

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden